Im heiligen Feuer

Er sah aus dem Fenster des Flugzeugs. Tränen begannen, über seine Wangen zu rinnen. Alles verkauft, und noch Geld geliehen. Nach Indien, er wollte, nein, er musste es endlich wissen. Wer ist Gott? Und was soll das Ganze? Das Leben, das Universum, und der ganze Rest? Wenn ich wiederkehre, dachte er, und ich weiß es noch immer nicht, dann werde ich meinem Leben ein Ende setzen. Ich ertrage es nicht mehr.

Was den jungen Mann in solche Verzweiflung getrieben hatte, darüber möge gnädig der Mantel der Diskretion ausgebreitet sein, und ohnehin, als er in Indien angekommen war, war der Kummer schnell verflogen. Seine Reise führte ihn in ein Kloster in Südindien, wo eine Heilige lebte, die weithin dafür bekannt war, sie besäße und lehre das Geheimnis der allumfassenden Liebe.

Die Unterkunft im Ashram der Heiligen war spartanisch. Ashram ist das indische Wort für Kloster, und genauso karg war es dort auch. Matten auf Steinboden in einem Gemeinschaftsschlafsaal, wo alle, Männlein wie Weiblein, zusammen auf dem Boden schliefen, die einzelnen Schlafplätze nur durch zwei Armlängen getrennt. Aber das war nicht so schlimm, denn man kam kaum zum Schlafen. In diesem Ashram strebte man die Erkenntnis Gottes durch das Singen heiliger Lieder an. Um 5 Uhr morgens ging es los, bis nach Mitternacht, Singen, Meditieren, Arbeiten. Denn jeder Besucher musste für seinen Aufenthalt einen (allerdings kleinen) täglichen Obulus entrichten und außerdem beim Aufbau und Erhalt des Ashrams mithelfen. Der junge Mann, sein Name war Frederick, entschied sich für den Küchendienst. Das gefiel ihm besser als Putzen, und für die handwerklichen Tätigkeiten fehlte ihm das Geschick.

Die Heilige lehrte, wie schon beschrieben, dass Gott die allumfassende Liebe sei, und dass man Ihn erkennen könne, wenn man heilige Lieder singt. Sie sprach ansonsten sehr wenig, meistens, wenn man mit ihr beisammensaß, schwiegen alle im Raum. Aber das genau war es, was Frederick wollte. Er wollte seine Gedanken zum Schweigen bringen, endlich diesen nagenden Zweifeln und schlimmen Erinnerungen entfliehen. Die Falle, die darin liegt, das Vergessen nämlich, konnte Frederick nicht sehen.

Aber zu Beginn war dieser Ashram die Erfüllung aller von Fredericks Träumen. Das Singen machte ihm Freude, obwohl er darin wenig begabt war, doch in einer Gruppe von ein paar Dutzend fiel das nicht weiter auf. Er fand auch schnell Freunde in der Besuchergruppe, alle nannten ihn Freddy, denn Frederick konnten nur die Westler aussprechen, und es waren mehr Inder da als Westler, der Ashram war damals noch ein Geheimtipp.

Damit das nicht so bliebe, ging die Heilige ständig auf Tour, und auch dafür wurden die Besucher des Ashrams eingespannt. Die kannten ja sämtliche Lieder der Heiligen, und übten sie mehrmals täglich. Sie waren deshalb der perfekte Chor für die Auftritte der Heiligen und gingen sogar mit auf die Bühne. Eines Abends, nach einer dieser langen Fahrten in einem dieser schrecklich harten und unbequemen Busse, in glühender Hitze und ständig im Staub, weil natürlich alle Fenster offenstanden, eines Abends traf Frederick mitten in der Aufführung eine Erkenntnis wie ein Blitz, und er sang lauter und freudiger als bei jedem Konzert zuvor.

Am nächsten Morgen wurde Frederick in das Büro des Ashrams zitiert. Er hatte falsch gesungen, und weil er das auch noch so laut getan hatte, hatte er das Darshan, indisch für “Gewahrnehmung”, so nannte man die Konzerte; Frederick hatte das Darshan der Heiligen gestört. Er würde künftig nicht mehr mitfahren dürfen, sagte man ihm streng. Doch es war bereits um Frederick geschehen. Ein paar Tage lang noch ertrug man ihn, dann ging es nicht mehr darum, ob er im Chor singen würde. Frederick störte inzwischen den ganzen Ashram, für ihn war alles Gott geworden, und aus dem Moment dieser letztlich banalen Erkenntnis während des Abends dieses besonderen Darshans kam er nicht mehr heraus und musste sie jedem beständig aufdrängen. Dummerweise, da es Frederick völlig gleichgültig war, wie ein Gegenüber auf ihn reagierte, denn es war immer nur Gott, ob der andere nun lächelte oder tadelte; dummerweise konnte niemand noch Frederick erreichen, denn er hatte sich in Gefühlen und im Vergessen verloren. Und so kam es, wie es kommen musste. Die Heilige warf Frederick aus dem Ashram, er war zu einer Gefahr für ihren Ruf geworden, Besucher könnten ausbleiben oder verfrüht abreisen, wenn sie sehen würden, was der Einfluss der Heiligen, zumindest für den einen oder anderen, zu bewirken vermochte. Frederick wusste es nicht, aber er war zu einem Schandfleck für den Ashram geworden und man setzte ihn vor die Tür, mutterseelenallein in einer der ärmsten Gegenden von Südindien.

Egal wohin Frederick sich in dem Dorf, in welchem der Ashram lag, auch wandte, jeder wies ihm die Tür. Er irrte durch die kleine Siedlung, es begann dunkel zu werden. Ich werde am Strand schlafen, dachte Frederick. Er machte sich auf den Weg zum Meer hinunter. Dort waren windschiefe und notdürftig aus Strandgut gezimmerte Hütten, es war der Slum, in dem die Fischer lebten. Aber Frederick klopfte an keine Tür, es war ihm klar geworden, dass niemand mehr mit ihm reden wollte. Er warf seinen Rucksack in den Sand und legte sich, wie er war, ohne Decke oder Kissen in die Dünen. Dort würde er schlafen, Gott würde nach ihm sehen. Denn man mag es wohl glauben, dass Frederick ausgehungert war und fror, und in großer Gefahr war, aber eines wusste Frederick noch immer ganz gewiss: Dass alles das Gott war, und dass nichts geschehen könne, dass nicht Er war. Und Frederick spürte nichts mehr außer diesem.

Frederick hatte vergessen, was die Löwen sind, um es in einem Satz zu sagen. Er begann zu singen, falsch oder nicht, niemand würde es hören, aber Gott würde es hören, und das reichte ihm.

Ein Knabe, vielleicht 12 Jahre alt, setzte sich zu Frederick und hörte ihm eine Weile zu. Er musste ihn singen gehört haben und wollte wohl wissen, wer da am Abend alleine am Strand war. Als Frederick das Mantra, einen heiligen Gesang, beendet hatte, lächelte er den Jungen an. “Nam?” fragte er und zeigte auf den Jungen. “Krishna”, sagte der Junge und deutete ebenfalls auf Frederick: “Nam?” “Freddy”, sagte Frederick und musste dann, als der Junge es zu wiederholen versuchte, über die seltsame Aussprache seines Namens lachen. Mehr Wortschatz stand den beiden jedoch nicht zur Verfügung, sie versuchten also, sich mit Zeichensprache zu verständigen, aber auch damit kamen sie nicht weit. Sie gingen dazu über, Bilder in den Sand zu zeichnen, und, man mag es kaum glauben, der Junge war der erste, der verstand, was Frederick schon seit Tagen so unbedingt jedem sagen wollte, nämlich, dass Gott alles ist, und dass es nichts außer diesem zu wissen gibt. Frederick überlegte, welches Mantra der Junge kennen würde, und dann fiel es ihm ein, das Ganesh Mantra zu Ehren des Gottes, der ein Junge mit dem Kopf eines Elefanten ist. Weil es Glück in jedes Haus bringen soll, in dem es gesungen wird, weiß es jeder Hindu. “Jay Ganeshe, jay Ganeshe, jay Ganeshe Deva, Mata teri Paravati, Pita maha Deva”, gelobt seist Du Ganesha, gelobt seist Du Ganesha, gelobt seist Du Gott Ganesha, Deine Mutter ist Parvati und Dein Vater der große Gott (Shiva).

Der Mond ging auf. Groß und orange stand er am Himmel über dem Meer, aber Frederick war sicher, das war nicht der Mond, sondern ein UFO, das gekommen war, um dem Gesang der beiden zu lauschen. Krishna zupfte ihn am Ärmel und zeigte in die Richtung des Fischerdorfes. Frederick wollte nicht gehen, ihm war, als würde er alle Wunder des Universums sehen, er wollte für immer bleiben an diesem Strand. Aber der Junge ließ nicht locker, und so gab Frederick, ein wenig verärgert zwar, nach, und Krishna führte ihn ins Dorf. Es war zu klein, um einen eigenen Tempel zu haben, aber ein wenig abseits lag eine heilige Feuerstelle für durchreisende Sadhus (wandernde Hindu-Mönche). Man erkennt diese Stellen daran, dass ein Dreizack in der Asche einer gemauerten Feuerstelle steckt. Dorthin brachte der Junge Frederick und bedeutete ihm, auf ihn zu warten, als er in der Dunkelheit verschwand. Krishna kam zurück mit einer Decke, und zeigte mit gefalteten Händen an seinem Ohr, dass Frederick nun schlafen solle auf einer der Bastmatten, die um die Feuerstelle ausgelegt waren.

Am nächsten Morgen war der Junge wieder da und hatte nicht nur heißen Tee und Brot mitgebracht, sondern auch einen alten Mann aus dem Dorf, der des Lesens kundig war. Der alte Mann studierte die Reiseunterlagen von Frederick und begann dann mit einer langen Erklärung an den Knaben, von der Frederick natürlich kein Wort verstand. Aber der Junge nickte, und als Frederick gegessen hatte, machte er sich mit Frederick auf den Weg über weite Felder und von Ochsenkarren gefurchte Wege in die nächstgelegene kleine Stadt.

Frederick sah aus dem Fenster des Busses, der ihn in die Hauptstadt bringen würde, damit er seinen Flug zurück nach Europa nehmen konnte. Er winkte dem Jungen zu, und als der Bus losfuhr, zerbrach der Zauber, der Fredericks Geist so lange gefesselt hatte. Ja, Gott ist alles, dachte er, aber die Menschen sind es nicht.

Wie heilig sind die, die wir heilig nennen, gegenüber jedem Kind?