König, Bettler, Kind

Der Knabe kauerte hinter dem Busch. Zwei Stunden hockte er schon dort, seine Knie schmerzten. Wer würde heute die Essensreste den Schweinen bringen? Bitte, lieber Gott, lass es nicht den Putzknecht sein, dachte er. Einmal hatte der sogar ein Messer nach ihm geworfen. Wenn aber die Magd kam, dann könnte er vielleicht Glück haben. Die sah sogar absichtlich weg, schien es dem Knaben.

“Der Krieg ist verloren”, sagte der König. “Du, mein Prinz, wirst es lernen müssen, dass nicht unser Haus den Preis dafür zu zahlen hat. Wer würde die Bauern beschützen, wenn wir arm wären? Es sind die Bauern, die entbehrlich sind. Dein Mitleid ist völlig fehl am Platz. Eines Tages wirst du König sein, und dann musst auch du die nötige Härte aufbringen.” Der Königssohn begehrte auf. “Aber Vater, sie verhungern, seht Ihr es nicht? Welchen Schutz würden sie bedürfen, wenn sie auf dem Friedhof sind?” Der König wurde ärgerlich. “Mach dir darum keine Sorgen. Sie vermehren sich wie die Karnickel, aber unser Blut ist heilig. Du weißt, unsere Macht kommt von Gott, und wer es bezweifeln würde, der geht auf den Scheiterhaufen – wie es Gottes Wunsch ist. Genug jetzt von dieser verweichlichten Schwäche, ich habe meine Amtsgeschäfte zu erledigen.” Der König erhob sich vom Frühstückstisch, und die Diener begannen, die Tafel abzuräumen.

Es war die Magd, die kam, und das Herz des Knaben tat einen Sprung. Im Eimer war ein ganzes Baguette! Oh, wie seine kleine Schwester sich freuen würde, und die Mutter würde so stolz auf ihn sein. Jetzt hieß es schnell sein, und das Baguette holen, bevor die Magd den königlichen Schweinestall öffnen würde. Und nicht nur sah die Magd weg, sie ließ sich sogar Zeit, meinte der Knabe. Und so griff er sich das Brot, barg es unter seinem Hemd und rannte fort, so schnell er konnte.

Der Bettler erwachte. Sein Magen schmerzte höllisch. Seit Tagen hatte er nichts mehr gegessen. Ich werde verhungern, dachte der Bettler. Gott hat mich vergessen. Sein Blick fiel auf ein Eichhörnchen. Es saß im Geäst des Baumes, unter dem er sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Das Eichhörnchen sah ihn an. “Ich hab nichts”, sagte der Bettler. “Dich nährt der Herrgott, wie es in der Schrift steht. Aber für mich hat Er nichts übrig. Ach, wenn ich doch ein Vogel wäre, sie säen nicht, sie ernten nicht, und Gott füttert sie doch.”

Der Bettler sah den Knaben von weitem. Was hatte er wohl unter dem Hemd? Er barg es wie einen kostbaren Schatz. “Hey du”, sagte der Bettler. “Wohin so eilig?” Der Knabe war stehengeblieben, denn der Bettler versperrte ihm den Weg. Sollte er fliehen? Aber wohin? Der Wald war dicht bewachsen, kein Durchkommen. “Es ist für meine Schwester”, sagte der Knabe. “Sie wartet schon, bitte lass mich vorbei.” Doch der Bettler hatte längst erkannt, dass da ein ganzes Brot unter dem Hemd war, unten sah es ein wenig heraus. “Bitte, mein lieber Junge”, flehte der Bettler. “Brich dein Brot mit mir, ich bin so hungrig.” Doch der Knabe sah zu Boden. Wenn er dem Bettler etwas abgeben würde, dann bliebe nichts für die Mutter. Sie würde es der Schwester und ihm geben, und dann noch schlimmer husten. “Nein”, sagte der Knabe. “Geh, hol dir selber Brot, das ist mein Brot.”

Und dann geschah es. Ein roter Blitz explodierte in der Seele des Bettlers. Das Gesicht des Kindes wurde ihm zum Antlitz Jesu, und er würde ihn dafür bezahlen lassen, dass er das Kind mehr liebte als ihn. Seine Hände legten sich um den Hals des Jungen, und drückten, und drückten, bis ein ungläubiges Entsetzen, dass Menschen so böse sein können, in die Augen des Knaben trat, und als der Bettler endlich die Hände von dem Jungen nahm, da kam seine kleine Zunge blau heraus und seine Seele war fort.

Doch dem Bettler war es einerlei, er griff das Brot unter dem Hemd und aß, aber nur ein Viertel brachte er herunter. Sein Magen war so klein geworden, weil er schon so lange gehungert hatte. “Siehst du”, sagte er zu dem toten Jungen. “Nur ein Viertel hättest du mir geben müssen, aber du warst zu geizig. Das hast du jetzt davon.” Aber dann erreichte die Kraft des Brotes sein Gehirn und löste den rasenden Wahn, in welchen er in seinem Hunger gefallen war. Der Bettler sprang auf und rannte davon. Er konnte den Ort, an dem er Satan zum Opfer geworden war, keine Sekunde länger ertragen.

Es waren die Schreie eines Hähers, die den Jäger hatten nachsehen lassen. Und sobald man im Dorf erfahren hatte, dass Joseph ermordet worden war, machten sich alle auf die Suche. Der Vagabund fiel ihnen sofort auf, und als man dann noch ein Baguette bei ihm fand, und die Krümel unter dem Hemd des Jungen, gab es keinen Zweifel.

Der Bettler hatte alles unumwunden gestanden, und so würde man ihn schon am nächsten Tag vor den Richter bringen, damit er sein Todesurteil erhalten würde. Doch dem Bettler war alles einerlei geworden. Das Kind tat ihm so leid. “Ach”, dachte der Bettler, “hätte ich ihn doch ziehen lassen. Vielleicht wäre ich verhungert, und dann wäre ich tot, aber dieser Junge würde noch leben. Gott hasst mich doch sowieso, und es ist nur gerecht, dass ich nun sterben muss. Aber der Junge, er könnte noch leben…” Der Bettler schluchzte. Er begann wieder zu weinen, aber als er die Augen schloss, sah er sie wieder, die blaue Zunge. “Hoffentlich kommt der Henker bald”, flüsterte er leise vor sich hin. “Wie soll ich nur weiterleben mit dieser Schuld?” Er sah aus dem Fenster. Vor dem Fenster war ein Baum, und in seinen Zweigen saß – das Eichhörnchen. Der Bettler wusste sofort, dass es das selbe Eichhörnchen war. Das, das den Mord mit angesehen hatte. Seine Tränen versiegten. Der Bettler konnte es nicht verstehen, es war das selbe Eichhörnchen, und es sah ihn wieder an. Dann begann es zu sprechen. “Na, endlich kannst du mich hören. Aber jetzt ist es zu spät. Ich habe so sehr versucht, dich zu warnen, aber dein Herz war taub. Und nun ist es geschehen.”

Der Bettler war derart verblüfft von all dem, dass es ihn gar nicht wunderte, dass das Eichhörnchen sprechen konnte. Vielleicht können Eichhörnchen nicht sprechen, dachte er. Aber dieses Eichhörnchen kann es, ich weiß nicht warum, aber ich höre es. “Sag mal”, antwortete er dem Eichhörnchen. “Du hast alles gesehen? Aber warum redest du dann mit mir? Keiner redet mehr mit mir. Ich bin der Schlimmste der Schlimmen und ich habe es nicht anders verdient. Und niemand weiß das besser als du, und doch redest du mit mir? Warum?”

“Ich bin ein Bote”, sagte das Eichhörnchen. “Gott schickt mich, dir zu sagen, dass Er dich nicht hasst. Er kann dich gar nicht hassen, verstehst du? Der Hass ist eine Erfindung der Menschen, vor Gott ist er weniger als nichts.” Das Eichhörnchen machte es sich auf einer Astgabel bequem. “Glaubst du wirklich, Gott würde dich hassen, weil der Hunger dich in den Wahnsinn getrieben hat? Jesus wolltest du ermorden mit diesem Kind, erinnerst du dich? Was für eine traurige Gestalt du abgegeben hast. Du hattest dich bis ins Letzte in den Hass ergeben, aber es war alles deins, Gott hat damit nichts zu tun. Und nun wirst du den Preis bezahlen müssen.”

“Ja”, seufzte der Bettler, “ich weiß. Bald werde ich hängen und es ist nur gerecht.” Das Eichhörnchen schnaubte empört. “Gerecht? Was weißt du denn von Gerechtigkeit? Du meinst, dein Leben für das seine, und alles ist wieder gut? Aber was ist mit seiner Mutter? Du wirst Vater sein, und ein Kind verlieren. Du wirst ein Kind sein, das getötet wird. Du wirst ein Jäger sein, der ein totes Kind findet, und ein Henker, der die Schlinge knüpft. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es ist das göttliche Gesetz, und du verstehst nichts davon.”

Erst jetzt begriff der Bettler, was er wirklich getan hatte. “Ich bin verloren”, flüsterte er. “Wie soll ich all das nur erdulden, ohne wieder dem Hass zu unterliegen? Schon der Hunger war zuviel für mich, wie soll ich nur all diesen anderen Schmerz ertragen?” Das Eichhörnchen musterte ihn nachdenklich. “Hast du dich eigentlich einmal gefragt, warum du Jesus töten wolltest mit diesem Kind?” Der Bettler fand die Frage seltsam. Er war doch einfach nur verrückt gewesen, was sollte dieser Wahn schon zu bedeuten haben? “Nein”, antwortete er. Das Eichhörnchen faltete zwei winzige Flügel aus. “Vergebung ist der einzige Weg. Aber sie liegt nicht in deiner Hand.” Und mit diesen Worten stieg der Engel in die gleißende Sonne auf.

Der Richter sah den Bettler streng an. “Du hast ein letztes Wort.” Der Bettler erhob sich, machte zwei Schritte auf den Richter zu und fiel auf die Knie. “Herr, ich war so hungrig, und ein Wahn hat mich ergriffen. Ich bitte Ihre Gnaden um meinen Tod, aber ich will sagen, dass ich meine böse Tat zutiefst bereue und zu Christus um Vergebung flehe.”

Josephs Mutter war mit großem Groll im Herzen in den Gerichtssaal gekommen. Sie wollte das Ungeheuer, das ihren Sohn getötet hatte, sterben sehen, und so grausam wie möglich noch dazu. Dann aber hatte sie die zerlumpte, abgemagerte Gestalt immer wieder angesehen während der Verhandlung, wie er dasaß als ein Häuflein Elend. Und als der Bettler sich vor dem Richter niederwarf, und der Richter schrie “Du böser Lump! Ein schlechtes Gewissen willst du uns machen, wie kannst du es wagen, dich gegen den Erlöser zu versündigen!”, da stand die Mutter auf und ging nach vorn zum Richter. “Bitte, Herr, mein Sohn ist tot. Wenn der da stirbt, wird mein Kind davon nicht lebendig. Und er sieht wirklich so verhungert aus, ich glaube ihm, dass ihn der Wahn des Hungers getrieben hat. Bitte schont sein Leben, ich will ihm vergeben.”

Doch es half alles nichts, der Richter blieb hart. Der Termin für die Hinrichtung wurde für den nächsten Morgen angesetzt.

“Du bist jetzt schon 16 Jahre alt, es wird Zeit, dass du die harte Realität kennenlernst”, sagte der König zu seinem Sohn. “Heute ist Hinrichtungstag, und wir werden der Versammlung die Ehre der königlichen Anwesenheit geben. Ein Kindsmörder wird gehenkt, und du sollst das Kommando entbieten. Du weißt, wir Könige können vergeben bis zuletzt, und deshalb dürfen nur wir und unsere Paladine dem Henker befehlen. Und heute wirst du dieses Amt übernehmen.” Ein unheimliches Glitzern trat in die Augen des Prinzen. Macht über Leben oder Tod, dachte er. Heute werde ich endlich wissen, wozu ich geboren bin. Der König sah seinen Sohn streng an. “Der, der heute sterben muss, ist ein armer wirrer Tropf. Sogar die Mutter des toten Jungen hat um Vergebung für ihn gebeten vor dem Richter, stelle dir vor. Aber er muss sterben, denn das Volk muss lernen, wie es den Hunger ertragen kann. Einer stirbt, und Hundert sind in Angst. Und Angst ist der beste Zuchtmeister.”

Der Henker wandte sich zum Prinzen, und wartete auf das Zeichen. Doch der Königssohn sah schon seit geraumer Zeit auf ein seltsames Eichhörnchen in einem Baum. Erst als er den Blick der Mutter des Knaben bemerkte, wurde ihm wieder bewusst, wo er war und was nun von ihm erwartet wurde. “Papa”, flüsterte er. “Ich will ihm vergeben, du hast gesagt, ich darf es.” Der König grunzte wütend. “Allez”, rief er dem Henker zu. Die Falltür schwang auf, und der Bettler fiel herunter. Sein Genick brach, bevor er ersticken musste, der Henker hatte sein Werk gut getan.

Endlich war die klare Vollmondnacht gekommen, auf die er so lange hatte warten müssen. Der Prinz schlich in den Stall und sattelte sein treuestes Pferd. Das gefährliche Stück war der gepflasterte Weg zum Tor. Würden die Wachen vom Getrappel geweckt werden? Er schlug die Hufe in Mull ein. Und alles ging gut. Der Prinz führte sein Pferd zum nahegelegenen Wald. Er würde die ganze Nacht reiten, niemand hier würde ihn je wiedersehen. Sein Ziel war ein Kloster in der Schweiz, dort wollte er bleiben für den Rest seiner Tage. “Ich muss es wissen”, dachte der Prinz. “Was war es, das in den Augen dieser Mutter leuchtete? Ich muss es wissen.”