Die meisten Tage vergingen nun im Nebel. Nur selten wusste Therese noch, wer und wo sie war. Heute aber lachte die Sonne, und die Vögel sangen. Therese saß in ihrem Rollstuhl im Park vor dem Pflegeheim, und freute sich an der Wärme des Frühlings.
Doch ihr Herz wog schwer, bestimmt würde auch heute niemand kommen, sie zu besuchen. Das ist nun alles, was mir geblieben ist, dachte sie. Ein langes Warten auf den Tod. Es würde mir so viel bedeuten, jetzt zu wissen, dass ich das Leben weitergegeben habe… Eine kleine Träne kullerte über ihre Wange.
Damals, an der Uni, war sie sich so sicher gewesen. Kinder sind bloß lästig. Ganz besonders für Frauen, Karriere kann man vergessen, wenn man so ein Würmchen an der Backe hat. Aber Therese wollte unbedingt Karriere machen, sie träumte vom Nobelpreis. Und so arbeitete sie hart, jeden Tag, kein Raum für Vergnügen, und schon gar nicht, um einen Gefährten zu finden.
Der Doktor, mit Auszeichnung. Die Berufung in die internationale Forschergruppe zur Entwicklung eines Herzinsuffizienz-Medikaments. Der hochdotierte Vizepräsidentin-Posten bei dem internationalen Pharma-Konzern.
Aber mit 40 begann das Sehnen. Da war dieser Kollege. Seine Frau war bei der Geburt seines Kindes gestorben, und er hatte es nicht weggegeben, sondern eine jahrelange Auszeit genommen, um es großzuziehen. Sehr hart war das wohl gewesen, er erzählte oft, wie er jeden Morgen die Sonderangebote gewälzt hatte, um mit minimalsten Mitteln über die Runden zu kommen. Ein paar Jahre später, als er das Kind in den Schulhort geben konnte, war er aber wieder in den Beruf zurückgekehrt, und hatte, wie es Therese schien, wieder gut Anschluss gefunden. Und immer wenn sie an seinem Tisch vorbeiging, und die Fotos von Festen, Sporttrophäen und Schultheateraufführungen sah, gab es Therese einen Stich.
Seit ein paar Jahren war Therese nun doch noch verheiratet, ihr Mann ein Arbeitswütiger wie sie, erfolgreicher Jurist und an Nachwuchs gänzlich uninteressiert. So hatte er nicht schlecht gestaunt, als Therese ihm vorschlug, ein Kind zu bekommen. „Du bist reichlich spät dran, bist du sicher, dass du dein Leben komplett auf den Kopf stellen willst? Du weißt, ich kann dir nicht helfen, da müsstest du schon alleine durch. Ich habe keine Zeit für sowas.“
Aber, immerhin, er hatte sich nicht verweigert, und Therese setzte die Pille ab. Doch die Jahre gingen ins Land, und das erhoffte Glück wollte und wollte sich nicht einstellen.
Ein Sperling flog herbei und setzte sich auf die Bank neben Thereses Rollstuhl. Na, der ist aber zutraulich, staunte Therese. Vielleicht hofft er auf ein paar Brotkrumen?
Als es immer offensichtlicher geworden war, dass es auf natürlichem Wege nicht klappen würde, hatten Therese und ihr Mann die Hilfe der Reproduktionsmedizin gesucht. Aber auch mit dieser schrecklichen Tortur gelang es nicht. Für Thereses Mann war es natürlich keine Mühe gewesen, aber die Hormonbehandlung, und die schmerzvolle Ovarien-Ernte… eines Morgens, zwei Stunden vor dem nächsten Termin, war Schluss gewesen für Therese. Sie hatte abgesagt, und ihre Hoffnungen begraben. Der Arzt war am Telefon sehr verständnisvoll gewesen, und riet ihr zu einer Adoption.
Aber zu einer Adoption war Thereses Mann nicht bereit. „Weißt du, was das dann für Gene mitbringt? Vielleicht wird es ein Mörder, oder ein Dieb, und damit soll ich mich herumschlagen? Auf keinen Fall.“ Und über diesem Zwist zerbrach Thereses Ehe.
Nach der Scheidung hatte Therese versucht, alleinstehend zu adoptieren, aber obwohl das zwar grundsätzlich möglich gewesen wäre, und Therese die enorme finanzielle Belastung zu tragen bereit war, war Therese nun zu alt und das Jugendamt teilte ihr mit, dass es aussichtslos sei.
Was blieb Therese übrig, sie stürzte sich wieder in die Arbeit, allein schon, um mit Überstunden den abendlichen Horror der leeren Wohnung möglichst lange hinauszuzögern.
So zogen die Jahre vorbei, und dann hatte das mit den „Aussetzern“ angefangen. Zu Beginn hatten die Tabletten noch geholfen, aber es wurde immer mehr. Die Dosis musste ständig erhöht werden, und die Nebenwirkungen wurden schlimmer und schlimmer. Noch eine Tablette gegen die Nebenwirkungen, und noch eine gegen die Nebenwirkungen von der. Und noch eine, und noch eine.
Therese musste in Frühpension gehen, doch das war kein Problem. Ihr Verdienst während ihrer Berufszeit war sehr hoch gewesen, so dass sie auch mit der geschmälerten Rente gut zurecht kam. Aber auch das ging nur noch ein paar Jahre gut, und als man sie dann einmal umherirrend und hilflos in der Stadt aufgegriffen hatte, musste sie in das Pflegeheim gehen.
Der Sperling begann zu singen. „Na, du bist aber ein Lieber“, sagte Therese. „Möchtest du mich aufmuntern, oder hast du nur Hunger?“ Der Vogel trällerte weiter, und mit einem Mal geschah etwas Erstaunliches. Therese konnte den Vogel verstehen. Obwohl sie ihn noch immer singen hörte, war es Therese, als ob die Worte des Sperlings sich direkt in ihrem Kopf formten. „Warum sollte ich Hunger haben?“ fragte er. „Es ist Frühling, überall sind leckere Würmer.
„Nein, ich habe gesehen, dass du traurig bist und dachte, vielleicht freust du dich über ein wenig Gesellschaft.“ Der Sperling legte sein Köpfchen schief und sah Therese freundlich an. Therese wurde es seltsam ums Herz. Ihm kann ich es doch erzählen, dachte sie. Er wird es keinem sagen. Und so klagte sie dem Vogel ihr Leid, wie einsam sie sich fühlte, und dass ihr Leben sinnlos gewesen war, weil nun keiner da war, sie zu trösten, und niemand ihre Fackel des Lebens weitertrug.
„Ach“, sagte der Sperling, „hättest du dich mal weniger mit Wissenschaft und mehr mit deiner Seele beschäftigt, dann wüsstest du, dass es dein Licht ist, das du weitergibst. Und nicht irgendwelche Aminosäuren. Komm mit, ich zeige dir etwas.“
Therese war ganz klein geworden, und huckepack flog der Sperling fort mit ihr in eine ferne Zeit.
„Sie wird sterben“, sagte der Arzt. „Es tut mir sehr leid, aber sie ist zu früh gekommen. Sie hat schwere Durchblutungsstörungen in der Lunge, wir können nichts tun.“ Die Mutter weinte bitterlich. „Ich bin schon alt, wenn sie geht, dann werde ich kein Kind mehr bekommen können. Bitte, bitte, tun Sie doch etwas.“ Der Arzt grübelte. Er hatte neulich einen Bericht gelesen über ein Medikament zur Behandlung von Herzinsuffizienz. Und dass das die erstaunliche Nebenwirkung hatte, die Durchblutung der Lunge zu verbessern. „Es gäbe vielleicht eine Möglichkeit. Es ist nicht zugelassen für Babys, und erst recht nicht für Frühchen, aber wir könnten es versuchen.“ Das Kind überlebte, und einige Jahre später war Thereses Medikament Mittel der Wahl zur Behandlung pränataler Lungenfunktionsstörungen geworden. Doch Therese war es zu dieser Zeit schon viel zu schlecht gegangen, und so hatte sie niemals davon erfahren.
„Siehst du“, sagte der Sperling. „Du bist Mutter für so viele, wie kannst du glauben, du hättest dein Licht nicht weitergetragen? Vor dem Herrn sind alle Wege gleich, nur dein Bemühen zählt.“
Die Schwester kam, um Therese wieder hereinzuholen, und weil Therese so friedlich dasaß und ein Lächeln war um ihren Mund, merkte sie es erst, als Thereses Kopf vornüberfiel.