Auferstehung

Noch einen Schluck Korn, dachte Hans. Dann werde ich wieder vergessen können.

Doch heute hielt ihn die Vergangenheit in eisernem Griff, das gnädige Dunkel des Rausches wollte und wollte nicht kommen. „Papa, sag doch endlich was die Überraschung ist! Ich kann nicht mehr, ich will es jetzt wissen!“ Bennie hüpfte aufgeregt herum, und seine Augen strahlten. Wenn Papa so ein Riesending daraus macht, dann muss es etwas ganz Besonderes sein, Bennie war sich ganz sicher. „Nun warte doch noch ein Weilchen“, sagte Hans. „Der Liefertermin ist heute, und du darfst mir beim Aufbauen helfen.“

Er hatte alle Termine für den Nachmittag abgesagt. Die Kunden seines Malerbetriebs würden sich für den neuen Wohnzimmeranstrich gedulden müssen. Hans hatte immer so wenig Zeit für Bennie, aber bei den ersten Sprüngen auf dem mühsam erspartem Trampolin musste er unbedingt dabei sein. Und das konnte auf keinen Fall bis zum Wochenende warten.

Hans trank weiter, der scharfe Alkohol biss ihn in die Kehle. Es war ein lauer März-Abend. Er beschloss, heute nicht ins Wohnheim zu gehen. Ich werde hier schlafen, es wird schon gehen, sagte er sich. Er sah in den Himmel, ein besonders heller Stern war schon aufgegangen. Hans richtete sich auf der Parkbank ein Lager her. Um zu verstehen, was eine klare März-Nacht mit den Temperaturen im Park anstellen würde, war er längst zu betrunken.

Nach der Lehre hatte Hans sich ein paar Jahre als Geselle verdingt. Und sobald er den Meister bestanden hatte, seinen kleinen Betrieb aufgebaut. Bald darauf war seine liebe Frau in sein Leben gekommen, und als ihr Bauch rund wurde, setzte Hans alles daran, dass sein Kind im Grünen würde aufwachsen können.

Bennie war sein ganzer Stolz. Er spielte Handball im Verein und war der Beste im Sport. 13 war er jetzt, und manchmal nahm Hans ihn mit zur Arbeit. „Eines Tages wirst du meinen Betrieb erben“, sagte Hans oft zu Bennie. „Und dann wird er Hans und Sohn heißen.“

Die Überraschung mit dem Trampolin war ein voller Erfolg gewesen. Bennie sprang stundenlang, und dachte sich immer neue Spiele aus. Dann war das mit den Saltos losgegangen. Immer wieder beschwor seine Ehefrau Hans, er solle das Bennie verbieten. Viel zu gefährlich, meinte sie. Aber Hans winkte ab. Es sind Jungs, die müssen so. Diskussion beendet.

Die Häsin hoppelte durch den Garten. Was ist das denn für ein seltsames Tier, dachte sie. Es dreht sich in der Luft, wie geht das? Die Häsin blieb stehen und sah dem Geschöpf fasziniert zu. Mit einem Mal aber tat das Wesen einen schrillen Schrei, und die Häsin flitzte davon.

Hans reparierte gerade die Spüle, aber dieser Schrei hatte diesen besonderen Ton. Wie alle Eltern wusste Hans am Klang sofort, dass das ein anderes war als der übliche Kinderlärm. Er rannte in den Garten. Bennie lag am Rand des Trampolins, sein Hals seltsam verdreht. Hans kletterte auf das Trampolin und legte seine Hand beruhigend auf die Brust des Jungen. „Was ist passiert, mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder.“ Aber Bennie konnte nicht mehr sprechen. Ein letztes Mal blickte er seinen Vater an, dann brachen seine Augen.

Zuerst war seine Frau gegangen. Sie hatte versucht, tapfer zu sein, aber einmal hatte sie es Hans doch gesagt. „Du bist schuld, dass er tot ist. So oft habe ich dich gebeten, ihm die Saltos zu verbieten, aber du wolltest einfach nicht hören.“ Dann zerfiel der Betrieb, Hans trank immer mehr, und die Kunden waren nicht mehr zufrieden. Und mit den Schulden für das Haus musste Hans Insolvenz anmelden.

So trieb er sich nun also durch die Stadt, und wartete auf den Tod. Die Flasche war jetzt leer, Hans schlief endlich ein.

Der Junge packte seinen Ranzen. Wieder so ein langweiliger Tag, und Sport ist auch noch. Max würde ihn bestimmt wieder ärgern, Brillenschlange, Bücherwurm, weil der Junge im Sport so ein Versager war. Aber was solls, tröstete sich der Junge. Dafür hab ich die besseren Noten in Deutsch. Wie jeden Tag machte er den Umweg durch den Park, der Junge liebte die Geräusche der Natur am Morgen. Da liegt ja einer auf der Bank, dachte der Junge. Was macht der denn da? Er ging hin, um ihn sich anzusehen. Er brauchte ein wenig, um zu verstehen, doch dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

„Das ist bestimmt nur ein Obdachloser, der seinen Rausch ausschläft“, sagte der Mann in der Einsatzzentrale. „Mach dir keine Sorgen.“ Aber der Junge ließ nicht locker. „Ich habe gelesen, wenn die Lippen blau sind, dann ist das ein schlimmes Zeichen. Und seine Lippen sind blau! Ganz blau!“ Der Mann gab auf. „OK, ich schicke jemanden rüber. Bitte warte dort.“ Der Junge aber rannte zur Straße, denn er hatte aus einem Erste-Hilfe-Buch gelernt, dass er dem Rettungswagen winken und ihm dann zeigen musste, wo der Einsatz war.

Hans sah nun das Licht, und er hatte keine Angst davor. Dort würde er endlich Frieden finden, er wusste es.

„Hey Papa, wo willst du hin?“ Mit einem Mal flog Bennie neben ihm. Hans begann zu weinen. „Zu dir, mein liebes Kind, zu dir. Es tut mir so leid, was ich dir angetan habe.“ Bennie schüttelte den Kopf. „Du hast mir gar nichts angetan. So ein schönes Leben hast du mir geschenkt, was redest du da?“ Doch Hans ließ sich nicht beirren. „Die Saltos, ich hätte sie dir verbieten müssen. Deine Mama hat es mir wieder und wieder gesagt, aber ich habe nicht auf sie gehört.“

„Wenn einer schuld ist, dann war es der Hase“, erklärte Bennie bestimmt, und erzählte seinem Vater, wie er im Absprung plötzlich die Häsin gesehen hatte, und wie die ihn angeguckt hatte, als ob sie Bennie bewundern würde für seine Saltos. Wie Bennie sich dann verkantet hatte vor Überraschung, und er mit dem Hals auf die Stange geknallt war. „Und außerdem“, rief Bennie, „ich hätte doch ganz genauso auf Mama hören können. Sie hat es nicht nur dir gesagt!“

„Du kennst dich wirklich gut aus“, sagte der Rettungssanitäter zu dem Jungen. „Bei so etwas kommt es auf jede Minute an, und du hast alles richtig gemacht.“ Er stellte seinen Rucksack ab, und fühlte den Puls von Hans. „Er lebt noch“, sagte der Sanitäter, „aber er muss sofort ins Krankenhaus.“

Nach der Notfallversorgung, am Tag der geplanten Entlassung aus dem Hospital, bat Hans um ein Gespräch mit dem Arzt, und erzählte ihm von seinem Alkoholproblem. Der Arzt wusste, dass das Krankenhaus nur Verluste davon haben würde, und dass er Ärger mit seinem Vorgesetzten bekommen würde, aber er schrieb Hans trotzdem eine Überweisung in die Psychiatrie.

Nach einigen Wochen war Hans trocken. „Bitte geh nicht“, hatte Bennie gesagt zum Abschied, als das Licht dunkel geworden war. Und das hatte Hans endlich den Mut für einen Neubeginn gegeben. Warum auch immer sein Sohn so früh hatte sterben müssen, er hatte Hans verziehen. Das Licht würde auf Hans noch warten müssen.

Die Anzeige in der Zeitung war klein gewesen, doch das war Hans gerade recht gekommen. Ein großer Betrieb nimmt mich sowieso nicht, dachte er. Er stellte sich also vor. Natürlich kam die Rede auf die große Lücke im Lebenslauf, aber Hans nahm all seinen Mut zusammen und erzählte die ganze Geschichte, ließ nichts aus, auch seine Alkoholsucht nicht.

„Ich will ganz offen sein“, sagte der Chef. „Man findet kaum noch Mitarbeiter. Wer etwas kann, geht fort, und die, die kommen, können nichts. Normalerweise würde ich Sie nicht einstellen, aber es ist so schwierig geworden, und Sie waren ehrlich mit mir. Bitte enttäuschen Sie mich nicht, Sie fangen nach Ostern an.“