Der Weg der Liebe

„Peter, hast du schon gehört, dem Johannes aus Köln ist ein Engel erschienen! Er ist ein Knecht wie wir!“ Thomas war so aufgeregt, wie Peter ihn noch nie gesehen hatte. „Sei leise, du Narr! Wenn der Bauer uns hört, setzt es wieder Schläge. Und ein Abendbrot bekommen wir auch nicht.“

Aber Thomas ließ nicht locker. „Johannes sagt, er wird einen Kreuzzug nach Jerusalem anführen, und er ruft alle auf, ihm zu folgen. Es haben sich schon Hunderte angeschlossen, ich will auch gehen. Johannes verspricht, das Meer wird sich teilen für seinen Zug!“

Immerhin flüsterte Thomas nun. „Du weißt, die Wiederkunft des Gottessohns ist schon lange vorhergesagt. Aber er kann nicht kommen, weil die Heiden seinen Tempel besetzt halten. Der Tempel muss befreit werden, dann wird der Nazarener wieder bei uns sein. Und er wird uns erlösen, es steht geschrieben in der heiligen Schrift. Jesus zählt auf uns, Peter, willst du denn dein ganzes Leben diesen Schweinestall hier ausmisten und dem bösen Bauern nützen?“

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Der Sündenbock, der nicht über die Klippe ging

Der Anruf kam gegen halb drei. Gabrielle lauschte aufmerksam und war wieder einmal voller Bewunderung für die raffinierten Spiele der Hochfinanz. Sie würde nur die ihr zugedachte Rolle ausfüllen müssen, ihr konnte gar nichts passieren – und wie reich dann die Belohnung sein würde!

Gabrielle ging durch die Reihe der Reporter. Sie ignorierte alle Fragen, sah nicht links oder rechts. Einen sehr traurigen Gesichtsausdruck solle sie aufsetzen, hatte man ihr gesagt. Na, so etwas konnte sie gut. Die Kameras klickten fleißig, das würde schöne Fotos geben morgen für die Schlagzeilen. Der Diener öffnete ihr die Tür, das letzte Mal, wie sie wusste.

„Dieses Interview gestern, das bekommen wir schon wieder aus der Welt. Ich habe hier eine Erklärung, Sie hatten einen Nervenzusammenbruch, und deshalb…“ Der Vorsitzende gab sich zwar alle Mühe, aber seine Stimme zitterte trotzdem. „Angst“, dachte Gabrielle, und es gab ihr einen warmen Schauer. Sie hätte nicht gedacht, diesen Mann jemals kriechen zu sehen, aber hier war er… und kroch vor ihr.

„Nein“, sagte Gabrielle, und war sehr stolz auf sich.

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Das Lied der Ewigkeit

„Herr B., begeben Sie sich umgehend auf Zimmer 227! Herr B.!“ Herr B. schrak aus einem unruhigen Halbschlaf. Er wartete bereits seit 4 Stunden in diesem ungemütlichen, gnadenlos harten Stuhl, der für Fakire gemacht schien. Oder für jemanden, dem man die Macht der Paragraphen demonstrieren wollte.

„Haben Sie das Formular ausgefüllt?“ Die Sachbearbeiterin war eine dickliche Matrone, die ihre Leidenschaft für Buttersahnetorten mit riesigen Ohrringen zu kaschieren suchte. Ihr gewaltiger Busen wogte hin und her, während sie geschäftig einen Stapel Akten auf ihren Schreibtisch wuchtete. Der Anblick ängstigte Herrn B. „Damit könnte man jemanden erschlagen“, dachte er. Seine Stimme zitterte deshalb ein wenig. „Ich habe diesen Brief von Ihnen erhalten, erst gestern. Und ich bin sofort zu Ihnen gekommen, aber…“

„Papperlapapp“, sagte die Sachbearbeiterin. „Ohne Formular 18/C2-861a kann ich nichts für Sie tun. Gehen Sie auf Zimmer 35 und melden Sie sich dann wieder hier.“

Es stellte sich heraus, dass zur Erlangung des Formulars zunächst eine Geburtsurkunde neu beglaubigt erforderlich war, der Nachweis des Schulbesuchs – das hatte besonders lang gedauert, es war schließlich 50 Jahre her -, außerdem eine Meldebescheinigung und die Heiratsurkunde, sowie ein notariell bestätigtes Zertifikat seiner Schuhgröße. Letzteres hätte Herrn B. vielleicht gewundert, wenn er nach den Tagen des Umherirrens in dem riesigen Schloss, welches die „Behörde für besondere Angelegenheiten“ beherbergte, nicht schon völlig erschöpft und resigniert gewesen wäre.

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