„Herr B., begeben Sie sich umgehend auf Zimmer 227! Herr B.!“ Herr B. schrak aus einem unruhigen Halbschlaf. Er wartete bereits seit 4 Stunden in diesem ungemütlichen, gnadenlos harten Stuhl, der für Fakire gemacht schien. Oder für jemanden, dem man die Macht der Paragraphen demonstrieren wollte.
„Haben Sie das Formular ausgefüllt?“ Die Sachbearbeiterin war eine dickliche Matrone, die ihre Leidenschaft für Buttersahnetorten mit riesigen Ohrringen zu kaschieren suchte. Ihr gewaltiger Busen wogte hin und her, während sie geschäftig einen Stapel Akten auf ihren Schreibtisch wuchtete. Der Anblick ängstigte Herrn B. „Damit könnte man jemanden erschlagen“, dachte er. Seine Stimme zitterte deshalb ein wenig. „Ich habe diesen Brief von Ihnen erhalten, erst gestern. Und ich bin sofort zu Ihnen gekommen, aber…“
„Papperlapapp“, sagte die Sachbearbeiterin. „Ohne Formular 18/C2-861a kann ich nichts für Sie tun. Gehen Sie auf Zimmer 35 und melden Sie sich dann wieder hier.“
Es stellte sich heraus, dass zur Erlangung des Formulars zunächst eine Geburtsurkunde neu beglaubigt erforderlich war, der Nachweis des Schulbesuchs – das hatte besonders lang gedauert, es war schließlich 50 Jahre her -, außerdem eine Meldebescheinigung und die Heiratsurkunde, sowie ein notariell bestätigtes Zertifikat seiner Schuhgröße. Letzteres hätte Herrn B. vielleicht gewundert, wenn er nach den Tagen des Umherirrens in dem riesigen Schloss, welches die „Behörde für besondere Angelegenheiten“ beherbergte, nicht schon völlig erschöpft und resigniert gewesen wäre.
„Schön“, knurrte die Sachbearbeiterin. „Sehen Sie, das war doch gar nicht schwer. Aber es ist immer das Gleiche. Niemand macht sich die Mühe, über unsere anstrengende und wichtige Arbeit nachzudenken, und dann haben wir die ganzen Scherereien.“ Sie überreichte Herrn B. eine goldene Münze. „Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass Sie sich für Sonderbehandlung 13 qualifiziert haben. Gehen Sie mit dieser Münze zur Restrukturierungsdienststelle, dort wird man Ihnen weiterhelfen.“
Die RStruktDiStel lag in einer Seitengasse, nicht weit vom Schloss. Herr B. gab die Münze ab und wurde nett begrüßt. „Es ist nur ein kleiner Pieks“, sagte der junge Mann am Empfang. „Und vorher dürfen Sie noch zu Abend essen, auf besondere Einladung von X.“
X. war der reichste Mann der ganzen Stadt. Dass ausgerechnet dieser, für seinen Geiz legendäre, Kerl ein Abendessen bezahlen würde, hätte Herrn B. misstrauisch stimmen sollen. Doch man erzählte in letzter Zeit überall, X. wäre zum Philantropen geworden und würde nun alles verschenken. Außerdem war Herr B. sehr hungrig, nach all der amtlichen Rennerei, und schob seine Bedenken deshalb beiseite.
Es war tatsächlich nur ein kleiner Pieks gewesen, aber nun stand der Engel vor ihm. „Der Chef will dich sehen. Keine Sorge, es geht Ihm nicht um dich. Doch Er hat mich beauftragt, Ihm bei einer Untersuchung behilflich zu sein, und braucht dafür Zeugen. Du bist doch sicher bereit, Ihm Auskunft zu geben?“ Herr B. schluckte. Auf alles war er gefasst gewesen, nachdem der Postbote den gelben Brief gebracht hatte. Strafsteuern, Sozialarbeit, sogar Gefängnis hatte er befürchtet. Dass diese Sache zu einem Plausch mit dem Herrgott werden würde, hätte er sich jedoch niemals träumen lassen.
Herr B. klopfte vorsichtig. Wie würde Gott wohl aussehen? Ob Er tatsächlich einen langen weißen Bart haben würde? Oder vielleicht einen Elefantenkopf? Die Inder behaupteten sowas. Aber nun, die sagten auch, Er sähe wie ein Affe aus, und beides zusammen würde ja wohl nicht gehen. Herr B. war jedenfalls äußerst gespannt. Wer hatte Gott je gesehen, und nun würde ausgerechnet er… „Herein“, erklang eine liebliche Stimme, und Herr B. öffnete die Tür.
Es verschlug ihm die Sprache. Eine ätherisch schöne Dame räkelte sich in einem bequemen Liegestuhl an einem Pool mit türkisblauem Wasser. Ihre Augen verströmten ein seltsames Licht, und Ihre vollen Haare waren zu einer äußerst harmonischen und kunstvollen Frisur geflochten. Ein berückender Duft von Honig, Sandelholz und Tabak lag in der Luft – die wundervollste Frau, die Herr B. jemals gesehen hatte, rauchte mit graziöser Anmut eine Zigarette. Und war splitternackt.
Herr B. bekam unmittelbar eine Erektion – und was für eine. Ihm brach der Schweiß aus. Noch peinlicher ging es wohl nicht, da begegnete er endlich Gott, und dann ein kapitaler Ständer. „Bestimmt werde ich sofort rausgeworfen“, dachte er.
„Ach herrje“, flötete die Zauberfee. „Ich hatte gehofft, du freust dich. Aber Ich vergaß, du kommst ja von diesem verlorenen Planeten, wo man euch gelogen hat, der Ursprung des Lebens wäre die Sünde.“ Sie zwinkerte ihm freundlich zu, und verwandelte Sich in ein Walross. „Du verzeihst, wenn Ich ein wenig schwimmen gehe? Mit dieser Haut darf Ich nicht austrocknen.“
Das Walross drehte Seine Runden im sonnenblitzenden Wasser. Zärtlich sagte Es zu Herrn B.: „Du bist viel zu früh dran, was ist passiert? Bitte berichte Mir alles. So viele sind zu früh dran in letzter Zeit, das beunruhigt Mich.“
Es war merkwürdig. Die Stimme des Walrosses war direkt in Herrn B.’s Kopf. Und sie hörte sich nach seinem Vater an, wenn er Herrn B. vor langer Zeit, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, in den Schlaf gesungen hatte. Herrn B. wurde es ganz leicht ums Herz, er erinnerte sich der immerwährenden Schönheit des Seins. Und Platz in der Hose hatte er inzwischen auch wieder.
„Da gibt es diese Krankheit. Aber gottseidank haben die reichen Leute sich zusammengetan, um uns alle zu retten. Bei mir hat es aber nicht funktioniert, glaube ich.“
Das Walross seufzte. „Na, mit Mir hat das aber rein gar nichts zu tun. Man tötet einfach nur die Armen, damit die Reichen reich bleiben. Wie ist es nur möglich, dass du darauf hereingefallen bist?“
Herr B. begann zu weinen. „Als ich ein Knabe war, da warst Du überall. Jedes Blatt, jeder Vogel und jeder Stern hat mir von Dir gesprochen. Ich weiß nicht, wie ich Dich vergessen konnte – irgendwann fing es an, da hatte ich nur noch Angst vor dem Tod, und ich konnte Dich nirgends mehr sehen. Bitte vergib mir.“
Gott war nun ein warmes, güldenes Licht geworden. Sanft umfloss Es Herrn B. „Schschsch… wir haben alle Zeit der Welt.“
Und endlich, endlich konnte Herr B. das Lied der Ewigkeit wieder hören.