Es war nur Minuten her, da schien es Ahmat der beste Tag seines Lebens. Die Hochzeit seines großen Bruders, so ein schönes Fest. Alle lachten, tanzten und lobten Allah.
Doch dann taten sich die Schlünde der Hölle auf, und das Heulen der Diener Shaitans donnerte in den Abend.
Ahmat irrte durch den Schutt. Die Trümmer der Rakete rauchten noch, aber er musste seine Mutter suchen. „Ummi, Ummi, wo bist du?“ rief er, immer wieder, und das Blut, das ihm über die Stirn und aus den Ohren quoll, mischte sich mit seinen Tränen. Als er sie endlich fand, die blicklosen Augen weit aufgerissen in den Himmel, die Gedärme um ihre Beine gewickelt, kam ein gnädiges Dunkel und nahm ihn fort.
Der Vorstandsvorsitzende rückte seine Krawatte zurecht. „Nun werden wir sehen, aus welchem Holz du geschnitzt bist“, dachte er, und mit einem Mausklick sendete er die Datei an den Senator. „Es wäre Ihnen zu wünschen, Sie werfen einen Blick auf das beigefügte Video und überlegen sich danach noch einmal Ihr Veto gegen Drohneneinsätze. Ein besorgter Freund.“ Die Mail ging über einen anonymen Server, aber der Senator würde wissen, was ihm die Stunde geschlagen hatte. Erst die Aufnahmen des zu Tode gefolterten Kindes. Dann die engmaschige Video-Überwachung seiner über alles geliebten Enkelin.
Der Vorsitzende konnte es sich absolut nicht leisten, dass die Abstimmung zu Ungunsten seines Unternehmens ausgehen würde.
„Hey, der da lebt noch!“ Ahmat hatte gestöhnt in der Ohnmacht, seine Ohren schmerzten so sehr. Der Mann rüttelte ihn wach. „Komm mit, wir müssen weg hier, schnell. Oft bombardieren sie gleich noch einmal, um auch die Helfer zu treffen.“ Er hob den schmächtigen Körper des Jungen in seine Arme und trug ihn aus der Gefahrenzone.
Viele Wochen waren ins Land gegangen, der Kummer nur noch ein dumpfes Pochen, manchmal, in seinen Träumen. Jeden Tag besuchte Ahmat den Unterricht in der Koranschule, und endlich verstand er, was ihm widerfahren war. „Der Teufel, das ist ein anderer Name für Amerika, und er prüft deinen Glauben“, so erklärte es der Imam ihm wieder und wieder.
Als der Imam Ahmat zu sich rief, nach dem Gebet, fühlte Ahmat sich sehr geehrt. „Du hast brav gelernt“, sagte der Imam, und strich dem Knaben über den Kopf. „Der Herr hat dich gerufen, wirst du Ihm folgen?“ Ahmat nickte eifrig. „Was immer der Erhabene von mir wünscht, ich werde Ihm treu sein.“
Der Vorstandsvorsitzende trat vor die Kameras. „Ich fühle mich sehr geehrt, dass das amerikanische Volk uns erwählt hat, seiner Sicherheit zu dienen. Unsere neue Drohnengeneration wird über optimale Freund-Feind-Erkennung verfügen, bei zugleich höchster Wirksamkeit. Mit diesem Werkzeug können wir die Feinde unserer Freiheit besiegen und der Krieg gegen den Terror wird bald beendet sein.“
Man musste den dummen Schafen eben sagen, was sie hören wollten. Dass die Zeiten der riesigen Boni und Dividenden ohne Krieg sofort vorbei wären, das musste man dem einfachen Bürger doch nicht erzählen. Für so etwas war der doch sowieso viel zu blöd. Und nächstes Mal würde so eine billige Hochzeitsgesellschaft nicht mehr in den Schlagzeilen sein, dafür hatte er gesorgt. Der Entzug der Werbebudgets hatte die Chefredakteure schnell zur Besinnung gebracht. Dann würde er den erfundenen Quatsch mit der Erkennungs-KI auch nicht mehr erwähnen müssen.
Angelina wartete schon auf ihn in seiner Suite. Das musste gebührend gefeiert werden. Für die nagenden Kopfschmerzen noch ein Aspirin, dachte der Vorsitzende, dann kann die Party beginnen.
Der Imam griff in den Schrank und holte eine Weste hervor. „Hier, probiere das doch bitte einmal an.“ Ahmat schlüpfte in die Weste, sie war ihm ein wenig zu groß, doch mit ein paar Handgriffen schnürte der Imam sie fest.
„Morgen ist Markttag“, sagte der Imam, „und ein bekannter Politiker der Partei der verfluchten Gottlosen wird sprechen. Deshalb werden sehr viele der Soldaten des Teufels am Markt sein.“ Ahmats Herz schlug lauter. Endlich würde er es denen heimzahlen können, und seine Mutter würde Frieden finden. Und sehr stolz auf ihn sein.
„Siehst du? Hier ist ein Schalter“, fuhr der Imam fort. „Jetzt ist es noch nicht scharf, aber morgen, wenn du auf den Markt gehst, drückst du den Schalter zusammen, und dann aktivieren wir es. Sobald du danach den Schalter loslässt, wird Allah einen großen Sieg erhalten. Und du kommst ins Paradies, und wirst mit 72 Jungfrauen belohnt. Bist du bereit?“ Ahmat wusste nicht, was eine Jungfrau ist, aber in dieser Welt gefiel es ihm ohnehin nicht mehr. „Ja“, rief er, „ich will den Ruhm des Gepriesenen allen Menschen zeigen!“
Die Tablette hatte nicht geholfen, der Schmerz in seinem Kopf stach wie von Nadeln, aber der Vorstandsvorsitzende wollte sich den Abend nicht verderben lassen. Im Keller wartete ein Zwillingspärchen, frisch eingeflogen aus Haiti, und es war immer ein so besonderer Spaß mit Angelina, sie hatte immer die besten Ideen, die Qual so groß und lang werden zu lassen, wie es nur vorstellbar war.
Mit einem Mal wurde es dunkel. „Mach doch das Licht wieder an“, wollte der Vorsitzende sagen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht.
Der Doktor schüttelte den Kopf. „Er hat einen schweren Schlaganfall erlitten, es steht zu befürchten, dass er sich nicht erholen wird. Weite Teile im präfrontalen Cortex scheinen abgestorben.“ Der Aufsichtsrat reichte dem Doktor die Hand. „Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Bemühungen, und bitte sorgen Sie bestens für ihn. Die Firma wird für alles aufkommen.“
Die Sitzung war für den Abend anberaumt worden, der Aufsichtsrat hatte es ein wenig eilig. Da das arrogante Ekel nun weg war, sollte jetzt unbedingt sein Neffe den Vorsitz übernehmen. Und dazu würde er die anderen Mitglieder des Gremiums noch ein wenig bearbeiten müssen. Aber das würde kein Problem sein – die Fotos in seiner Tasche würden jeden von ihnen schnell überzeugen.
„Du musst versuchen, dass du so nah als möglich an die Soldaten herankommst, merk es dir! Und dann lässt du den Schalter los.“ Der Kämpfer sah Ahmat streng an. „Wir zählen auf dich, hörst du?“ Ahmat machte ein grimmiges Gesicht. „Es ist für meine Mama. Ich werde sie nicht enttäuschen.“
Joe sah das Kind, und etwas war seltsam an ihm. Es schien vor sich hin zu flüstern, warum? „Kurzer Kontrollgang“, sagte er zu seinem Kameraden und lief unauffällig außen herum, so dass er hinter dem Jungen herauskam, ohne dass Ahmat es bemerkte. „La ilaha illa llahu“, und Joe wusste Bescheid. Das Totengebet der Muslime. Der war doch viel zu klein, und doch…
Joe legte die Hand auf die Schulter des Jungen. „Wie heißt du?“ Ahmat zuckte zusammen. Das Arabisch des Soldaten war grausig, aber er konnte es verstehen. „Ahmat, mein Herr. Ich will nur Blumen kaufen für meine Mutter.“
„So ein schöner Name“, sagte Joe. „Der, dem Ruhm gebührt.“ Joe war jetzt sehr froh, dass er sich in den Arabischkurs eingeschrieben hatte. Ihm war klar, dass er unbedingt eine menschliche Bindung zu dem Jungen aufbauen musste. „Wie alt bist du?“ fragte er. „11 Jahre, und bitte, mein Herr, ich habe wenig Zeit.“ Ahmat wollte noch nicht loslassen. Er war noch viel zu weit von der Bühne, die für die Rede des Politikers aufgebaut war.
Der Vorstandsvorsitzende öffnete die Augen. Eine rote, staubige Wüste erstreckte sich vor ihm, so weit er nur blicken konnte. Neben ihm stand ein Engel. Der Engel blies in seine Posaune, und in der Ferne erhob sich ein Sturm.
„Ahmat, sag, was hast du in der Hand? Darf ich es sehen? Wo wohnst du?“ Joe überlegte fieberhaft, wie er das Vertrauen des Jungen gewinnen könnte. „Gehst du zur Schule?“ Ahmat wusste einfach nicht, was er machen sollte. „Ganz nah an die Bühne“, hatte der Kämpfer ihm eingeschärft, wie sollte er den Soldaten nur loswerden? „Ich wohne im Waisenheim“, sagte er, „und ich gehe zur Schule, zwei Dörfer von hier.“
Joe dachte, immerhin ein Anfang. „Mein Kleiner ist zehn, ihr wäret bestimmt beste Freunde. Er spielt Baseball, hast du schon einmal Baseball gespielt?“ Dann sah er das Kabel, das von der Faust des Jungen in den Ärmel lief. Er griff nach Ahmats Hand, schloss sie in die seine ein. „Ich werde nicht loslassen, verstehst du? Wir kommen hier beide heraus, und heute abend lade ich dich zum Essen ein, ok?“
Der Sturm kam näher, und der Vorstandsvorsitzende erkannte, was ihn bewirkte. Es war der Fürst der Finsternis mit seinem Gefolge. Der Vorsitzende war erleichtert. „Ich wusste, er würde mich nicht verlassen, ich wusste es“, dachte er, und dennoch war ihm mulmig zumute. Ein ganzes Leben dem Bösen gedient, aber war seine Mühe auch angenommen worden?
„Welche Mühe?“ dröhnte es in seinen Ohren. „Du wolltest alles, und meine Kraft hast du dafür genutzt. Dir ging es immer nur um dich, alles andere war dir egal.“ Der Teufel stand nun direkt vor dem Vorsitzenden. Sein feuriger Blick bohrte sich tief in die Seele des einst so stolzen, berühmten Mannes. „Den da will ich nicht“, sagte er dann, an den Engel gewandt. „Für die Buße, die dem Not tut, fehlen sogar mir die Mittel.“ Der Teufel drehte sich um, und bald schon war der Sturm wieder in der Ferne verschwunden.
„Nun denn“, sprach der Engel. Er öffnete die Hand, und ein Schmetterling stieg daraus auf in den Himmel. „Dieser Funken war von Ihm, und zu Seinem Thron kehrt er nun zurück. Dir bleibt das Königtum dieser Wüste hier, und sei unbesorgt, niemand wird sie dir jemals streitig machen.“
Der Engel war fort. Der Vorsitzende sank auf die Knie. Er war so durstig. Doch er begriff, nichts würde jemals wieder seinen Durst stillen. Er begann zu beten.
Das EEG zuckte kurz, aber keiner bemerkte es. Die leeren Augen des Vorsitzenden starrten an die Decke des Krankenzimmers. Sein Mund stand offen und ein Speichelfaden rann hervor. Ein namenloses Grauen war ihm ins Gesicht geschrieben. Es würde nie mehr vergehen. Denn manchen verzeiht selbst der Herrgott nicht.
Der Politiker betrat die Bühne. Ahmats Verzweiflung wuchs mit jeder Sekunde, und dann brach sie sich Bahn. „Was soll meine Mutter nur von mir denken?“ flüsterte er, und eine Träne rollte über seine staubigen Wangen. „Sie wird dich immer lieben“, sagte Joe und zerschnitt das Kabel.