Es braucht nur zwei, drei Hunde, eine Schafherde zu hüten. Doch für ein Rudel Löwen wären diese Hunde nur Futter.
„Hildegard, bitte geh doch zum Müller und hole uns ein Pfund Mehl. Dann backe ich dir feine Pfannkuchen, willst du?“
Hildegard strahlte ihre Mutter an. „Ja, Mutter, du weißt doch, deine Pfannkuchen sind die besten der ganzen Welt!“ Und sie rannte los, so schnell ihre Beine sie tragen konnten.
Der Müller sah das Mädchen an. „Es ist kaum noch Mehl da. Ich werde dir wohl keines geben können.“ Hildegard war sehr enttäuscht. „Aber meine Mutter wollte Pfannkuchen… ich hab mich so gefreut…“
In die Augen des Müllers trat ein seltsamer Schatten. „Nun, es gäbe da vielleicht einen Weg. Komm mit, ich zeige es dir.“ Das Starren des Mannes ließ Hildegard frösteln. Aber sie folgte ihm in die Vorratskammer, die Pfannkuchen besiegten ihr warnendes Herz.
Er fiel über sie her. „Nun hab dich nicht so. 9 Jahre alt bist du, da ist es längst Zeit, dass du lernst, wie du den Männern zu dienen hast.“ Hildegard wehrte sich mit aller Kraft, sie biss, kratzte und schrie.
Es war ein Zufallstreffer. Ihr Daumen stach in das linke Auge des Müllers und der Nagel zerriss ihm die Netzhaut. Der Müller brüllte wie am Spieß. „Ich bin blind, was hast du getan!“ Hildegard lief weg. Doch das Säckchen Mehl, mit dem der Müller sie hatte locken wollen, das nahm sie mit.
Die Pfannkuchen aber schmeckten ihr kein Bisschen an jenem Abend, und die nächsten Tage lag sie fiebernd.
Der Müller hatte zunächst überlegt, das Mädchen vor den Richter zu zerren und es des Diebstahls zu beschuldigen. Die Kinder jener Zeit wurden mit dem 8. Lebensjahr strafmündig, und er wollte das kleine Biest im Kerker. Aber sie hatte sein Ding gesehen, wem würde der Richter wohl glauben, wenn sie davon erzählte? So verfiel er auf eine andere Art der Rache. Er begann überall zu erzählen, sein trübes Auge, das sei ein Fluch der kleinen Hildegard, seht ihr es nicht, der Teufel ist in ihrem Blick! Hütet euch vor der!
Um Hildegard wurde es einsam. Das Getuschel ihrer Freundinnen machte ihr Angst, und niemand wollte mit ihr noch in den Wald, Kräuter sammeln. So ging sie also alleine, und Stunde um Stunde sah sie dort den Bienen zu, badete im Duft der Blumen, lachte über eifrige Mäuslein beim Nestbau, sang der Sonne ein Lied. Bewundernd für den Zauber der Schöpfung fand sie jeden Trost, dessen sie bedurfte.
Und so wurde es ihr einerlei, dass kein Mädchen aus dem Dorf noch ihre Freundin sein wollte, denn sie hatte die Liebe Gottes gefunden.
Die Zeit kam, sich zu vermählen, aber Hildegard wollte nicht. Von den Männern hatte sie genug für immer. Vor einiger Zeit hatte sie eine alte Hütte im Wald gefunden, dort ging sie hin. Sie baute alles wieder auf, und legte ein Kräutergärtchen an. Bald schon verbreitete sich ihr Ruf, und die Kranken und Beladenen kam von weither zu ihr. Sie konnte es nicht erklären, warum sie wusste, welche der Gaben der Natur den Menschen heilen würde, der ihr gegenübersaß. Aber fast immer wirkte der Kräutersud, den sie ihm braute.
Eines Tages hockte der Müller vor ihr. Alt war er geworden, und ein schlimmes Hinken plagte ihn. Doch Hildegard sagte nein. Es waren ihr Hochmut über ihren Ruhm bei den vielen Menschen, denen sie geholfen hatte, und ihre Lust an der Rache nach so langer Zeit, die sie trieben. Und sie waren ihr Verderben.
Der Müller erzählte ein paar Burschen von einem Schatz im Wald, und wartete auf den nächsten Vollmond. Nur bei dessen Licht könne man den Schatz sehen, hatte er den Jungen weisgemacht. Als die Nacht dann kam, warf der Müller sich ein Wolfsfell über, und schlich schaurig heulend um Hildegards Hütte. Sobald er wusste, dass die Schatzsucher seinen gruseligen Schatten gesehen hatten, zündete er das bengalische Feuer, das ihm ein Reisender von weither verkauft hatte. Die Buben rannten schreiend fort.
Der Inquisitor verrichtete ungerührt sein Werk. Er streckte, schnitt und brach. Und immer die gleiche Frage: „Wie hast du es getan? Wie hast du geheilt? Nur der Baader vermag zu heilen, gib es zu, du bist dem Teufel zu Diensten!“
Hildegard sagte es ihm, wieder und wieder. „Es war das Wispern ihrer Seelen, es hat es mir gesprochen, was fehlt, und dann habe ich es ihnen gegeben.“ Doch mit jedem Mal wurde sie leiser, und dann begann sie es selbst zu glauben. Dass sie eine Hexe war.
Die Tür schwang auf. Der oberste Richter kam herein, und befahl dem Inquisitor, inne zu halten. Sein kleiner Sohn war krank, er rang mit dem Tod. „Komm mit“, sagte er zu Hildegard und führte sie an das Bett des Kindes. „Wenn du wirklich weißt, wie zu heilen ist, dann heile ihn – und ich will dir glauben, dass du nicht mit dem Bösen im Bunde bist.“
Doch Hildegard hörte nichts mehr. Das Wispern der Seelen der Kinder war immer das klarste und lauteste gewesen, wenn ihre Mütter sie ihr brachten zur Hütte im Wald. Doch nun war sie taub geworden dafür.
Der Knabe starb am nächsten Tag.
Als die Verhandlung kam, gestand Hildegard alles. Nur nicht noch einmal in den Folterkeller, mehr wollte sie nicht.
Gierig leckten die Flammen empor. Die johlende Menge bekreuzigte sich und lobte die Macht der Kirche.
Der Engel barg sie in seinem Arm. „Mein Kind, mein armes Kind, was haben sie dir nur angetan.“ Hildegard sah, dass der Engel weinte. Aber warum sollte er um eine Hexe weinen?
„Du bist keine Hexe“, sagte der Engel. „Du warst dem Herrn ein Wohlgefallen und eine Zier, vergiss, was die Bösen dir gelogen haben. Die wollten nur nicht, dass dein Licht das Dunkle ihrer Herzen zeigt.“
Der Engel begleitete Hildegard zu einem kleinen Bachgrund. In der Nähe weidete eine Herde Schafe. „Siehst du dieses Kräutlein dort? Ich will es dir schenken, hüte es und gib ihm all deine Liebe. Der Herrgott wird sich daran erfreuen.“
Millionen von Jahren zuvor war ein sterbender Riesenstern mit einem letzten Aufbäumen ein Quasar geworden, und hatte dabei einen gigantischen Gammablitz in das All geworfen. Ein Ausläufer dieser Strahlung, es war reiner Zufall, traf in just diesem Moment nach äonenlanger Reise Hildegards Kräutlein, und in seinem Erbgut spalteten sich ein paar Chromosomen anders als zuvor. Eine neue Art war entstanden, im ewigen Spiel der Evolution.
Sobald diese neuen Kräuter sich ausgebreitet hatten am Bachlauf, wurden sie von den Schafen entdeckt. Ein Lämmchen war mutig genug, vielleicht auch ein wenig tollkühn, und labte sich daran. Es rief seine Freunde, ihnen zu zeigen, welch feine Speise es gefunden hatte.
Ein Raunen und Staunen und Bangen ging durch die Herde. Ein Schaf mit Löwenaugen, das hatten sie noch nie gesehen.
Aber es dauerte nicht lang, da weideten alle davon. Und bald schon, eines Morgens, war das Gatter leer.