Die Straße der Engel

Stepan trank seinen Kakao aus und griff nach seinem Ranzen. “Auf geht’s, Katya. Ist wieder Schule. Du musst mitkommen, und gut auf mich aufpassen, hat Papa gesagt.” Katya wedelte glücklich. Mit einem fröhlichen “Wuff” antwortete sie, sie wusste genau, dass es nun wieder losging. Jeden Tag begleitete sie Stepan in die Schule, und dann wartete sie dort in einem nahegelegenen Schrebergärtchen, bis der Junge wieder mit ihr nach Hause lief.

Nach der Vorspeise ging es auf einem anderen Kontinent an die wichtigen Themen. “Nur Stärke nutzt, wir müssen in die Rüstung investieren, soviel es geht. Man fängt nur einen Krieg an, den man gewinnen kann, und wenn der Feind sieht, dass wir wohl vorbereitet sind, wird er mit uns keinen weiteren Krieg beginnen, so einfach ist das”, sagte der dicke Fabrikant, und dachte dabei an seine kürzliche Umschichtung im Depot zu Rheinmetall und Raytheon.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, dem ist das egal, überlegte sie. Aber sie sagte es nicht laut, denn das würde sie den Job kosten. Ohnehin war sie nur versehentlich in der Runde dabei, jemand hatte abgesagt, und dann hatte man sie eingeladen. Stattdessen sprach sie dem hervorragenden Wein zu, der zur Vorspeise gereicht wurde. Aber sie nippte nur daran, zu viel würde ihr die Zunge lockern, das war ihr klar, und auch, dass das auf keinen Fall passieren durfte.

Früher hatte immer Papa Stepan in die Schule begleitet, und dann mit Herrn Solowjow ein Schwätzchen in dessen an die Schule angrenzenden Schrebergärtchen gehalten, bevor er sich wieder der Langeweile eines arbeitslosen Vormittags aussetzte. Daher kam die Angewohnheit von Katya, in jenem Gärtchen auszuharren, bis Stepan wieder aus der Schule kam. Aber Herr Solowjow hatte zur Armee gemusst, und bald darauf nahm auch Stepans Papa ihn eines Morgens in den Arm und drückte ihn ganz fest. “Ich muss kämpfen für dich, lieber Junge. Ich werde bald wieder hier sein, und bis dahin passt Katya auf dich auf. Und du auf Mama, versprich mir das!” Stepan weinte und flehte, aber es nutzte nichts. Der Offizier, der erschienen war mit einem offiziellen Papier, machte ein grimmiges Gesicht, und schlug mit der Faust auf den Tisch. “Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, lass die Spielchen”, herrschte er den Vater an. Und als dieser kuschte und Stepan von sich stieß, zerbrach ein Stückchen seiner Kinderwelt. Papa war gar nicht so stark, wie Stepan immer geglaubt hatte.

Nun machte doch einer den Mund auf. “Natürlich müssen wir uns verteidigen, das ist doch völlig unstrittig. Aber der Vorrang der Diplomatie darf nicht in Frage gestellt werden. Was wird die Politik in dieser Hinsicht unternehmen?” Der Generalsekretär wand sich. Er hatte in diesen Fragen nicht das Mindeste zu sagen, musste nur die Befehle der Geldgeber ausführen, ohne deren ständigen Zustrom von Kredit die Wirtschaft am nächsten Tag zusammenbrechen würde. Längst brannten schon die Barrikaden, und die Bauern sprühten Gülle in die Rathäuser. Wenn nun auch noch die staatlichen Gelder versiegen würden, dann könnte ich tatsächlich an der Laterne enden, also bleibt mir keine Wahl, dachte er. Doch das würde dieser hohe Herr gewiss niemals zugeben, also nickte der Generalsekretär beifällig und stimmte lächelnd zu. “Natürlich, wie es schon Clausewitz und Bismarck immer wieder betont haben, wir tun natürlich alles dafür, aber der Feind will leider nicht reden.” Wer hat den bloß eingeladen, der bekommt ein Donnerwetter von mir, dass es sich gewaschen hat. Und wehe, ich muss diese Fresse noch einmal sehen. Doch diese grimmigen Gedanken sah man dem Generalsekretär nicht an, so viel Wein gab es nicht, dass er seine Rolle hätte vergessen können.

Eine Sirene heulte los, und Stepan rannte schnell in das nächstgelegene Haus und versteckte sich mit Katya in dessen Kohlenkeller. Es war nur eine Rakete, aber sie trug Streumunition und legte das ganze Viertel in Schutt und Asche.

Es war dunkel geworden um das Kind und seinen treuen Freund, das Haus war eingestürzt und hatte den Kohlenkeller unter sich begraben. Ein Splitter hatte Stepan in den Bauch getroffen und das Leben rann in stetem Strom aus ihm heraus. Er nahm Katya in den Arm und sprach beruhigend auf den Hund ein. “Es wird alles gut werden, Papa wird kommen und uns hier herausholen, mach dir keine Sorgen.” Katya leckte über Stepans Gesicht, und schmeckte salzige Tränen.

Mit viel Mühe hatte der Generalsekretär das leidige Thema der Diplomatie abgebogen, nun sprach man wieder über die Wirtschaft, und wie undankbar die Menschen auf die aufopferungsvollen Bemühungen der Politiker reagieren würden. Außerdem sei es so wichtig, dass man seine Partei unterstütze, denn mit den anderen Parteien würde alles noch viel schlimmer werden, nur seine Partei habe die Interessen der Wirtschaft im Blick. Zum Hauptgang wurde Rotwein gereicht, der Weißwein der Vorspeise passte nicht zum edlen Roastbeef, das nun serviert wurde.

Stepan war still und kalt geworden. Katya horchte hinaus, sie hörte die Rufe vieler Menschen, aber für Stepan war es zu spät. Als man die beiden fand, gab es nichts, das man noch für Stepan hätte tun können, und dass Katya alleine hinaus in den grauen Morgen verschwand, bemerkte im allgemeinen Chaos niemand. Katya lief zum Schrebergärtchen, sie würde dort warten, bis Stepan wiederkäme. Er musste wiederkommen, was sollte sie tun ohne ihren Kumpel?

Die Nachspeise war misslungen, es war ein Tiramisu, das innen jedoch flüssig geblieben war. Die Runde der Reichen ließ es stehen, nur der Diplomatie-Freund aß bis zum letzten Krümel auf. Ein Trottel, dachte der Generalsekretär. Hoffentlich kriegt er jetzt tagelang Scheißerei und kotzt sich seine naive Seele aus dem Leib.

Katya fraß nichts mehr, nur gelegentlich trank sie etwas Wasser aus einer Pfütze. So dauerte es zwei Wochen, und der Wolf kam. “Ich bringe dich heim, liebe Katya. Was willst du noch hier, diese Welt ist so dunkel geworden, dass Unsere Mutter jeden Abend darum weint.” Aber Katya wollte nicht. “Ich muss auf Stepan warten, er wird bald aus der Schule kommen, und bestimmt hat er dann ein Leckerli für mich. Ich muss ihn immer behüten, ich darf nicht gehen.”

Der Wolf breitete seine Flügel aus, und legte sie zärtlich um Katya. “Komm, ich zeige dir, wo Stepan ist. Du wirst sehen, er freut sich schon sehr auf dich.” Der göttliche Bote trug Katya hinauf zu den Sternen. Und wie er es versprochen hatte, traf Katya dort endlich Stepan wieder. “Jetzt gehen wir erstmal Gassi”, sagte Stepan. Fröhlich sprangen der Junge und sein Hund über die Straße der Engel.