Der Kult der Blinden

“Der heilige Prophet Mordekun hat es uns geweissagt. Wir sind das auserwählte Volk, auserwählt vom Vater des Universums zu herrschen über die ganze Welt und alle Völker dieser Erde. Diesen Bund hat Er mit uns geschlossen, und Mordekun hat es uns gesagt, wenn der dritte Mandir fällt, wird seine Prophezeiung Wahrheit werden.”

Der Lehrer ließ einen strengen Blick über die Klasse streifen. “Hat das jeder von euch verstanden? Begreift ihr, welch große Verantwortung auf jedem von euch liegt?”

Rodano meldete sich schüchtern. “Warum hat Gott uns auserwählt? Es gibt doch so viele Völker, warum gerade uns?”

Die Augen des Lehrers verengten sich. “Hüte deine Zunge. Du bist jung, und es sei dir verziehen, aber wisse, dass es Blasphemie ist, diese Frage auch nur zu stellen. Doch freilich gibt es eine Antwort – niemand dient Ihm so treu wie wir, und deshalb hat Er uns auserwählt.”

Als Rodano an diesem Tag nach der Schule nach Hause ging, nagte ein Zweifel in seiner Seele, aber dann traf er sich mit seinen Freunden und sie gingen Fußballspielen. Und er vergaß, was ihn gestört hatte im Religionsunterricht.

Die Jahre zogen vorbei. Rodanos Eltern waren sehr gläubig, und so schickten sie ihn nach der Grundschule nicht an ein staatliches Gymnasium, sondern in eine Madrassa. Bald war Rodano, der hochbegabt und äußerst schlau war, in den heiligen Schriften sehr belesen. Er machte den Abschluss als Bester seiner Klasse, und sein Weg zum Priester schien vorgezeichnet.

Doch bald darauf klingelte es an der Tür, ein Mann stand dort und wies eine Marke vor. Rodanos Eltern machten eine tiefe Verbeugung, und erlaubten dem Fremden sofort, mit Rodano alleine zu sprechen.

“Du kennst die Prophezeiung von Mordekun?” fragte der Mann. “Natürlich kennst du sie. Als Bester deiner Klasse wirst du sie wohl auswendig wissen.” Rodano nickte. “Wir sind das auserwählte Volk, berufen von Gott zu herrschen über die ganze Welt und alle Völker dieser Erde. Wenn der dritte Mandir fällt …” Aber der Mann winkte ab. “Ja ja. Ich kenne die Weissagung so gut wie du. Aber hast du jemals darüber nachgedacht, dass auch andere Völker sie kennen? Was, wenn diese Völker es zu verhindern trachten, dass der dritte Mandir fällt?”

Rodano fiel ein Grübeln an. Der alte Zweifel nagte wieder an seinem Gewissen, aber immer noch vermochte er es nicht, ihm Raum zu geben. “Ich weiß nicht, Herr”, sagte er. “Wenn es Gottes Wille ist, wie könnte irgendwer Seine Pläne durchkreuzen?”

“Du hast es nicht verstanden”, sagte der Fremde. Seine Stimme war mit einem Mal warm und schmeichelnd geworden. “Dass wir auserwählt sind, heißt, dass wir Sein Werkzeug sind, Seine Pläne zu vollfüllen. Wer uns bekämpft, bekämpft auch Ihn, und es ist unsere Aufgabe, Seinen Willen in der Welt zu tun. Lass mich das abkürzen. Ich komme von einer Organisation, die daran arbeitet, Gottes Kraft in die Welt zu bringen. Wir haben dich schon lange beobachtet, und wir glauben, dass du berufen bist, dabei zu helfen. Wenige sind so klug wie du, und wir nehmen nur die Besten. Verschwende dein Leben nicht an den Priesterberuf. Das können andere machen, dazu muss man nur die Schrift kennen. Du aber trägst so viel mehr in dir, du wirst die Schrift mit Leben füllen.”

Kein Wunder, dass Rodano sich geehrt fühlte, und auch seine Eltern waren sehr stolz auf ihn, dass eine geheime Behörde der Staatssicherheit ihren Sohn erwählt hatte. Rodano wurde an einer Universität des Shinbi, so hieß die Behörde, eingeschrieben und lernte viele Jahre, wie Gott zu helfen sei. Sprengstoff aus frei erhältlichen Materialien herstellen, subversives Streuen von Fehlinformationen, Politiker in kompromittierende Situationen bringen um sie zu erpressen, und vieles mehr. Nachdem er seinen Abschluss gemacht hatte, wiederum mit Bravour, nahm ihn der Shinbi in den Dienst.

Rodano kam viel in der Welt herum, und je mehr Aufträge er erfolgreich beendete, desto höher stieg er auf. Inzwischen war er sehr zynisch geworden, denn er hatte verstanden, wie viel Macht der Kult bereits besaß. Oh, er glaubte immer noch, mit ganzer Kraft sogar, denn was er erlebte, zeigte ihm, dass die Prophezeiung des Mordekun wahr sein musste. Zynisch war er vielmehr geworden gegen die anderen Völker als das seine, er sah sie nur mehr als wertloses Vieh. Weniger sogar, als Vieh.

Dennoch gab es eine Grenze, die man ihm nicht erlaubte zu überschreiten. Manche Operationen wurden auch vor Rodano streng geheim gehalten. Als er eines Tages mit einem Vorgesetzten darüber sprach, zuckte dieser mit den Schultern. “Nur wer dem Kult der Blinden beigetreten ist, darf das ganze Ausmaß unserer Projekte kennen. Ich kann dich bekannt machen, aber ich warne dich, das ist nichts für jeden und wer sich anschließt, kann niemals zurück.”

Doch Rodanos Neugier war geweckt, und monatelang bedrängte er den Vorgesetzten wieder und wieder, bis dieser schließlich nachgab. Eines Abends wurde Rodano mit verbundenen Augen nach langer Fahrt in eine Halle gebracht. Dort warteten vermummte Männer und Frauen auf ihn, die Gesichter mit Kapuzen verborgen, und gekleidet wie Priester der alten Zeit. Nur Fackeln erleuchteten den Raum, und ihr Licht zuckte unruhig über den schwarz und weiß ausgelegten Boden.

“So, du willst also unserem Bund beitreten”, begann einer der Priester. “Nun, wir haben viel von dir gehört, doch wisse, dass es einen Preis fordert. Da du aber das Himmelreich gewinnen wirst, sollte dieser Preis dir nicht schwerfallen.” Man brachte Rodano einen Becher voll mit einer schweren, roten Flüssigkeit. “Trink”, sagte der Diener. Rodano setzte das Gefäß an die Lippen, und schmeckte sofort, dass es Blut war, das im Becher war. Aber er überwand seinen Ekel und leerte das Gebräu in einem Zug.

Es war nicht nur Blut gewesen, denn binnen Minuten fiel Rodano ein Schwindel an und der Raum wurde zum Gerichtshof Gottes. Die Fackeln waren Engel, die ihn prüften, und die Priester sprachen Sein Wort. “Du wirst uns die Augen deines Erstgeborenen bringen. Wir sind der Kult der Blinden, denn wir sind blind für alles außer Seinem Plan. Wer sich uns anschließen will, muss beweisen, dass ihm dieses Werk wichtiger ist als alles, sogar als das Glück seiner Kinder.” Und Rodano schrie es heraus: “Ja, ich will”, denn da war ein Rausch von Größe in ihm, für die er auch seinen Sohn bedenkenlos zu opfern bereit war.

Und dann, als es vollendet war, in einer versteckten Klinik, in die sein Kind unter einem Vorwand gebracht worden war, und die es blind verließ, erfuhr Rodano endlich, wie weltumspannend die Macht des Kultes war, und wie groß und gewaltig seine Projekte. Jeder war machtlos gegen den Kult, und er kontrollierte viele Politiker weltweit. Immer neue Pläne heckte der Shinbi aus, um die dumme Sklavenhorde der anderen Völker immer mehr und mehr jeder Macht und Freiheit zu berauben. Einmal sprengte man drei Türme, und als Rodano mit seinem Team die Explosion aus der Ferne beobachtete und filmte, tanzten sie vor Freude über den gelungenen Coup. Allerdings, sie wurden bei ihrer johlenden Feier beobachtet, und man nahm sie fest. Aber es dauerte nur eine Nacht, dann waren sie alle wieder frei und verließen das Land, welches eines der mächtigsten der Erde war, unbehelligt. So groß war die Macht des Kultes, dass Rodano völlig unantastbar geworden war. Und das nutzte er reichlich aus. Schließlich, die anderen Völker waren doch nur Vieh, sein Vieh, und so konnte er mit ihnen, und auch ihren Kindern, tun, was immer ihm gerade einfiel. Und es fiel im viel ein, denn den Schmerz um den blinden Sohn zu stillen, das forderte Jahr um Jahr einen immer noch höheren Tribut. Und so wurden die Orgien und Opferungen immer noch grausamer und wilder. Doch es war ja alles zum Ruhme Gottes.

“Der dritte Mandir muss fallen”, so ging der Schwur, mit dem jede Erteilung eines neuen Auftrags beschlossen wurde. Denn Gott war nicht in der Lage dazu, die bösen Heiden hinderten Ihn daran, und so musste die geheime Behörde das Werk tun, damit endlich das geweissagte Himmelreich, und damit die Herrschaft über alle und jedes, für Rodanos Volk kommen konnte. Sie waren auserwählt.

Niemand konnte Rodano aufhalten, ein Projekt, das er anfing, das gelang. Inzwischen war er hochdekoriert und hielt einen der höchsten Ränge im Kult inne. Dann bekam er einen neuen Auftrag. Es war nur ein kleiner, unbedeutender Auftrag im Rahmen eines großen Plans. Rodano war ein wenig enttäuscht, er hätte gerne in diesem Projekt, das die Menschen dazu brachte, sich weltweit freiwillig selbst zu vergiften, eine wichtigere Rolle gespielt. Aber natürlich war er ein treuer Soldat und ging nach Afrika, um einen widerspenstigen Kanzler zu töten, der sein Volk vor dem Gift beschützen wollte, und gegen den man nichts in der Hand hatte.

Rodano und sein Team brachen in das Haus des Politikers ein, das in dieser Nacht selbstverständlich unbewacht war, weil man alle Wachen bestochen hatte. Dann fuhren sie ihn in die Wildnis und verrichteten ihr Werk. Damit der Kanzler wissen konnte, was ihn nach seinem Tod erwarten würde, bereiteten sie ihm die schrecklichste Hölle auf Erden in den Stunden, bevor er starb.

Als Rodano in sein Hotelzimmer zurückkehrte, und sich einen Brandy einschenkte, traf ihn mit einem Mal ein schwerer Stich in die Brust. Er rang nach Luft und der Schweiß brach ihm aus. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr, und er taumelte zu Boden. Ein Licht ging auf, es strahlte ihm aus einem der Fenster mitten ins schmerzverzerrte Gesicht. Da verstand er, dass die Zeit gekommen war, dass der Herr der Schöpfung ihn rufen würde, und es wurde ihm leicht ums Herz. Endlich, endlich würde er das Paradies schauen, und die Qual um die leeren Augen seines Sohnes nie mehr spüren müssen.

Der Engel trug eine strahlende Rüstung, deren Glanz so hell war, dass es bis auf den Grund von Rodanos Seele drang. Eigentlich sollte ich mich freuen, dachte Rodano, aber dennoch stieg mit jeder Sekunde eine Angst in ihm. “Nun gut”, sagte der Engel. “Deine Zeit ist um, und deine Freiheit vorbei. Berichte mir, was hast du mit dieser himmlischen Gnade der Freiheit getan?”

Rodano war mit einem Mal wieder ein kleiner Junge geworden, und sein Mund war trocken. “Ich habe das Werk des Herrn getan. Ich wurde in Sein auserwähltes Volk geboren, und habe immer nur mein Bestes gegeben, damit Gott Seinen großen Plan verwirlichen kann.”

Der Engel lachte bitter. “Es gibt viele Kulte, die glauben, sie seien auserwählt zu herrschen über alle anderen. Einem jeden von ihnen reden es ihre Priester ein, mit phantasievollen Geschichten und gefälschten Wundern. Doch dabei seid ihr alle nur dumme Werkzeuge für die, die wirklich herrschen. Wie könnte Er eines Seiner Kinder mehr lieben als das andere? Es ist eine nichts als lächerliche Vorstellung. Nein, die dunklen Herrscher benutzen Eure Gier, Eure Faulheit und die Wunden in Euren Seelen, um Euch zu blenden gegen die Wahrheit Seiner Schöpfung – welche die Liebe ist, für alles und jedes.”

Vor Rodanos innerem Auge erschien eines der Kinder, das er furchtbar gemartert hatte, um es dem Kult zum Opfer zu bringen. Mit einem Mal sah er wieder die brechenden Augen des Kindes im Moment des Todes, und endlich verstand er, auch dieses Kind war Sein Kind gewesen. Rodano begann zu weinen. “Aber der dritte Mandir muss doch fallen, sonst kann Gott Sein Himmelreich nicht errichten! Wir mussten doch alles tun, damit Er sich endlich offenbaren kann, so, wie es uns versprochen ist schon so lange Zeit! Wenn wir nicht den Mandir fallen lassen, dann kann Gott doch gar nicht kommen, und damit Er kommen muss, mussten wir eben tun, was wir taten!”

“Ihn willst du zwingen? Ihn, das Herz von Raum und Zeit?” Der Engel schüttelte traurig den Kopf. “Alles, das du angebetet hast, war deine eigene Gier und das Böse in dir. Du hast niemals etwas anderes getan, als dich, soweit du es vermochtest, von Gott zu entfernen. Mit Ihm hatte nichts davon jemals zu tun. Vielmehr wolltest du Gott sein, aber nur ein Dämon der Selbstsucht bist du geworden. Das also ist es, das du mit deiner dir von Gott geschenkten Freiheit angefangen hast.”

“Also komme ich jetzt in die Hölle?” fragte Rodano, der mit diesen Worten begriff, dass er verloren war. Ein Schatten ging über das Antlitz des Engels. “Manche will selbst der Teufel nicht. Denn auch er vermag es nicht, ihre Seelen zu reinigen. Sieh her”, sagte der Engel. Er öffnete ein Fenster und Rodanos Blick ging in eine weite, heiße und staubige Wüste. “Dort wirst du bleiben bis zum Ende der Zeit, aber dieses Ende kommt nie. Und sei unbesorgt, niemand wird dir dein Königreich jemals streitig machen. Es gehört dir ganz allein.”

Der Engel breitete seine Flügel aus und stieg auf in das gleißende Licht der ewigen Wahrheit Gottes. Rodano begann seine Wanderung durch das zerstörte Land der Freiheit seiner Seele. Wie sehr sich Rodano wünschte, dass da einer wäre, irgendwer, um seine Freiheit endlich anders verwenden zu können. Aber an diesem Ort war nur er, allein mit seinen Erinnerungen an die Schrecken, die er seinen Mitgeschöpfen zugefügt hatte. Und seine Wanderung wird niemals enden.