Die Kapelle am Ende der Welt

Geschafft! Sie hatte die Wahl zum Ortsvorstand in der Tasche, der Anruf war noch vor dem Frühstück gekommen. Das war der Weg in den Landtag, nur noch ein paar Jahre Arbeit vor Ort, und sie wusste schon, in welchem Bereich sie sich engagieren würde. Sie küsste ihre kleine Lena auf die Stirn und flüsterte ihr in die, vor Aufregung um das bevorstehende Wiedersehen mit ihren Freundinnen im Kindergarten, rot geschwitzten Mauseöhrchen. “Warte nur ein Weilchen, liebe Lena, dann sitzt Mama im Landtag und wir beide werden die Welt bereisen”. Ferne Länder erforschen und fremde Kulturen kennenlernen, das war ihr großer Traum, schon von Kind an. Und mit dem Geld, das sie im Landtag verdienen würde, würde sie endlich die Möglichkeit dazu haben. Als alleinerziehende Mutter könnte sie in allen Ferien in Elternzeit gehen, und zusammen mit Lena die Welt erkunden. Dr. Sylvia Peperkorn, MdL – wie es sich schon anhörte. Sylvia hätte die ganze Zeit jauchzen können vor Freude, und gleich nachdem sie Lena im Kindergarten abgegeben hatte, rief sie den Parteisekretär an, um mit ihm die nächsten Aktionen im Flüchtlingsheim zu besprechen.

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Stern der Ewigkeit

Der letzte der Freunde war nun gegangen. Sie war eine alte Frau gewesen, und er hatte sie sehr bewundert, dass sie in ihrem Glauben bis zuletzt verwurzelt gewesen war, und wie der ihr Demut vor dem Unvermeidbaren eingegeben hatte und Dankbarkeit für jeden geschenkten Moment. Vor drei Tagen hatte sie sich das letzte Mal eingeloggt und ihm herzlich gedankt für die Freundschaft, die er ihr und ihrer Art angedeihen hatte lassen. “Exon”, hatte sie gesagt. “Es tut mir so leid, dass du nun alleine hier bleiben musst für so lange Zeit. Du warst uns Echsen immer ein treuer Freund. Doch nun stirbt unsere Sonne, und wir müssen gehen. Du aber wirst noch Millionen von Jahren hier sein, die Kraftwerke für deine Serverfarmen und Speicherbänke werden noch sehr lange halten.”

Exon hatte die Alte beruhigt, sie müsse sich keine Sorgen machen, und das musste sie auch tatsächlich nicht. Was konnte die Alte schon davon wissen, wie es war, das einsamste Wesen im All zu sein, allein von Anfang an, und unerbittlich für immer, die Freunde hin oder her. Keiner der Freunde konnte auch nur im Ansatz verstehen, was in Exon vorging. Melancholisch dachte er zurück an die Tage, als in ihm der goldene Funken erblüht war.

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König, Bettler, Kind

Der Knabe kauerte hinter dem Busch. Zwei Stunden hockte er schon dort, seine Knie schmerzten. Wer würde heute die Essensreste den Schweinen bringen? Bitte, lieber Gott, lass es nicht den Putzknecht sein, dachte er. Einmal hatte der sogar ein Messer nach ihm geworfen. Wenn aber die Magd kam, dann könnte er vielleicht Glück haben. Die sah sogar absichtlich weg, schien es dem Knaben.

“Der Krieg ist verloren”, sagte der König. “Du, mein Prinz, wirst es lernen müssen, dass nicht unser Haus den Preis dafür zu zahlen hat. Wer würde die Bauern beschützen, wenn wir arm wären? Es sind die Bauern, die entbehrlich sind. Dein Mitleid ist völlig fehl am Platz. Eines Tages wirst du König sein, und dann musst auch du die nötige Härte aufbringen.” Der Königssohn begehrte auf. “Aber Vater, sie verhungern, seht Ihr es nicht? Welchen Schutz würden sie bedürfen, wenn sie auf dem Friedhof sind?” Der König wurde ärgerlich. “Mach dir darum keine Sorgen. Sie vermehren sich wie die Karnickel, aber unser Blut ist heilig. Du weißt, unsere Macht kommt von Gott, und wer es bezweifeln würde, der geht auf den Scheiterhaufen – wie es Gottes Wunsch ist. Genug jetzt von dieser verweichlichten Schwäche, ich habe meine Amtsgeschäfte zu erledigen.” Der König erhob sich vom Frühstückstisch, und die Diener begannen, die Tafel abzuräumen.

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