„Mama, warum habt ihr mich Theodor genannt?“ Gestern hatte ihm sein Freund vom Nachbarhof erzählt, dass er Philipp hieß, weil sein Vater Pferde liebte, und wollte, dass auch sein Sohn wie er ein Freund der Pferde würde. Und deshalb wollte der Knabe nun wissen, woher denn sein Name kam.
Die Mutter sah ihn an, und ihre Augen wurden feucht. „Bevor du kamst, verlor ich ein Kind. Ich wäre fast gestorben daran, das Kind hatte schon 7 Monate in meinem Bauch gewohnt. Und ich dachte, der Herrgott würde mir keines mehr schenken wollen, weil danach so viele Jahre vergingen. Aber dann bist doch noch du gekommen, und weil das eine große Gnade des Herrn gewesen ist, nannte ich dich Theodor. Denn das ist es, was dein Name bedeutet: Geschenk Gottes.“
„Was ist Gott? Wieso kann es mich dir schenken?“ Theodor war verblüfft. Manchmal gab es einen Apfel und Nüsse zum Geburtstag, das war ein Geschenk. Aber das kam von Mama und Papa. Wer sollte es sein, der Leben verschenkt? „Die Priester sagen es“, meinte die Mutter. „Ich bin nur eine einfache Frau, ich weiß nichts von diesen Dingen. Aber es steht geschrieben in den heiligen Büchern, dass das Leben von Gott kommt, also ist Gott Das, Was Leben gibt.“
Im Jahr darauf ging Theodor mit seinem Vater in den Wald, Reisig sammeln. Sie hielten Rast unter einer Buche und packten die Brotzeit aus. Der Vater flüsterte in Theodors Ohr. „Siehst du, dort oben? Das ist ein Spatzennest. Halte dich ganz still, dann wirst du sehen, wie die Eltern ihre Kleinen füttern.“ Und wirklich, bald schon kam ein Vogel angeflogen, um kurz am Nest zu verweilen. Kaum war dieser Vogel fort, kam noch einer. Es waren immer die gleichen beiden Vögel, und unermüdlich flogen sie hin und her. Theodor konnte das Tschilpen der Küken hören, wie sie die ganze Zeit um Futter bettelten. „Warum ist das Nest so weit oben?“ fragte er den Vater, denn er hatte beobachtet, dass die Vögel oftmals am Boden nach Würmern suchten. „Wäre es nicht einfacher, wenn das Nest unten wäre, dann müssten die Eltern doch weniger arbeiten?“
Der Vater lächelte. Er sah in dieser Frage einen klugen und wachen Geist in seinem Sohn aufblitzen. „Nun, wenn das Nest nicht schwer zu erreichen ist, dann holt der Luchs die Kinder. Und deshalb arbeiten die Eltern lieber hart, damit ihren Kindern nichts geschieht.“ Und in diesem Moment begriff Theodor die Größe Gottes, denn wenn sogar die Vögel um Ihn wussten, und für Sein Geschenk so viel Mühe auf sich nahmen, dann musste Dieser der Herr des Alls sein.
Die Soldaten polterten durch das Haus. Der Herzog wollte die Steuern. Theodors Mutter weinte, und der Vater flehte. „Bitte sehen Sie doch meine Kinder, wie soll ich sie ernähren? Haben Sie Mitleid.“ Aber die Soldaten kümmerte das nicht. Sie nahmen die Vorräte für den Winter und die paar Münzen, die die Eltern gespart hatten. Theodor verstand, zu diesem Geburtstag würde es kein Geschenk geben.
Theodor war nun 11 Jahre alt. Der Hunger regierte den Hof, und seine Eltern waren verzweifelt. Sie setzten sich mit Theodor an den Küchentisch. „Der Große wird den Hof weiterführen, und deine beiden Schwestern sind schon versprochen. Du bist der Jüngste, und wie es Brauch ist, möchten wir dich der Kirche geben. Wie gefällt dir das?“ Theodor wollte nicht, denn er sah den Kummer im Gesicht seiner Mutter. Aber sie betete um das Beste für ihr Kind, und wenn der Orden ihn aufnehmen würde, dann würde er bestimmt immer genug zu essen haben. Also musste sie tapfer sein, damit Theodor es gut haben würde. „Du wirst dort lernen, wer Gott ist. Und das hast du dir doch immer schon gewünscht, nicht? So oft hast du mich nach Ihm gefragt, aber ich kann es dir nicht sagen. Doch die Mönche im Kloster widmen ihr ganzes Leben dieser Suche, dort wirst du Seine Wahrheit finden.“
„Ein Bauerskind“, sagte der Abt. „Ja, wir könnten Hilfe brauchen im Klostergarten. Ist er denn geschickt?“ Der Vater beeilte sich, Theodors Talente für Acker und Saat zu rühmen. „Er geht immer mit mir aufs Feld, und er ist sehr fleißig. Er wird Euch nicht enttäuschen.“
Jeden Morgen um vier ging es in die Kapelle, zwei Stunden Singen und Gebet. Dann ein harter Tag, Holz hacken, säen, Unkraut jäten, und die viele Arbeit in der Küche, um die Ernte einzuwecken für den Winter. Abends wieder auf die Knie und Gott preisen. Aber dann kam die eine Stunde, die Theodor für alles entschädigte. Der Abt las aus der Bibel, und erklärte, welch große Wahrheiten darin verborgen waren. Die Bibel war in einer fremden Sprache geschrieben, und nur ein Priester, der Latein gelernt hatte, konnte den Menschen das Wissen daraus beibringen. Theodor lauschte immer voll Begeisterung, es würde wahr werden, was seine Mutter ihm versprochen hatte – die Priester würden ihm helfen, er würde Gott finden.
Theodor stellte immer viele Fragen, und so kam es, dass der Abt die hohe Intelligenz des Jungen erkannte. Er schrieb Theodor für die Schule ein. Und manchmal dachte Theodor zwar, ob er nicht doch die Arbeit auf dem Feld dem strengen Lehrer vorziehen würde. Aber sein Wissensdurst war immer stärker als die Kopfschmerzen, die ihm die staubigen Bücher machten.
Theodor war nun ein junger Mann, und arbeitete in der Bibliothek des Klosters als Schreiber. Tag um Tag kopierte er die alten Schriften, damit nichts verlorenging. Eines Tages rief ihn der Abt in die Sakristei. „Du arbeitest sehr gut. Du bist tüchtig und man kann sich auf dich verlassen. Ich will dich mit einer besonderen Aufgabe betrauen.“ Und von da an hatte Theodor den Schlüssel zu dem Raum mit den geheimen Büchern, die keiner sehen durfte außer ihm und dem Abt.
Einige Zeit darauf kam ein Reisender ins Kloster, und er hatte viel zu erzählen. Er war im Vatikan gewesen, und in Rom gab es großen Aufruhr. „Dieser Kerl ist ein Mönch der Dominikaner, und er vertritt eine schreckliche Häresie. Die Erde wäre rund, und nur ein Planet unter vielen. Das All sei unendlich groß, und es gäbe viele Welten wie die unsere darin. Wir wären gar nicht der Mittelpunkt des Kosmos! Manche glauben ihm, aber das, was dieser Giordano Bruno über den Herrgott behauptet, ist die böseste Lästerung, von der ich je gehört habe. In der Bibel steht es doch, die Welt hat vier Enden!“
Theodors Neugier war geweckt, und er suchte in den geheimen Büchern. Und war äußerst erstaunt. Das, was Bruno sagte, das war alles schon seit dem Altertum bekannt, schon Plato, und vor ihm Parmenides, hatten es genauso beschrieben. Und auch von vielen Kirchenvätern fanden sich unzählige Zeugnisse davon, dass die Welt eine Kugel ist, und nur ein Planet unter vielen in unbeschreiblich weitem Raum. Sogar der große heilige Augustinus hatte es gewusst! Deshalb also waren all diese Schriften weggesperrt, niemand sollte erfahren, dass das, was die jetzigen Herrscher der Kirche erzählten, schlechthin gelogen war. Theodors Weltbild und Kirchenvertrauen erhielten einen heftigen Schlag.
Und als, im nächsten Jahr, die Nachricht kam, dass man Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte, ihn sogar geknebelt dorthin geführt hatte, damit ja niemand die Wahrheit aus seinem Mund mehr hören konnte, da zerbrach Theodors Glauben. Nachts schlich er sich aus dem Kloster und ging weit fort. Er verfluchte Gott, wie hatte Der es zulassen können, dass jemand, der nichts als die reine Wahrheit sprach, ein so grausames Schicksal erleiden musste.
Aber Gott zu hassen, das fiel Theodor doch zu schwer. Also begann er zu glauben, dass da gar kein Gott wäre, und fand damit seinen Seelenfrieden wieder. Es war das Schlechte an den Menschen, das er gesehen hatte, und Gott konnte daran nichts ändern, weil es Ihn gar nicht gab. Theodor verdingte sich am Hof eines Fürsten, das war leicht gewesen, Lesen und Schreiben und sogar Latein konnten damals nur sehr wenige. Es war Theodor sogar vorgekommen, als hätte es dem Fürsten gefallen, dass Theodor sich von der Kirche abgewandt hatte. „Gott hat die Welt erschaffen, aber das muss wohl sehr anstrengend gewesen sein, denn seither scheint Er zu schlafen“, hatte der Fürst gemeint, als die Rede auf Theodors Jugend im Kloster gekommen war. „Bei uns kannst du mehr für Gottes Ordnung tun als im Kloster.“
Doch dann kam der Tag, an dem Theodor begriff, dass jenes, was der Fürst als Gottes Ordnung benannte, nur das eigene Wohl des Fürsten selbst war. Der Bauer, der gegen die Steuern aufbegehrt hatte, und zur Strafe ausgepeitscht und aufs Rad gespannt vor den Toren der Stadt aufgehangen wurde, zur Abschreckung für die anderen Bauern, erinnerte Theodor an das Flehen seines Vaters vor vielen Jahren, und an die Tränen seiner Mutter. „Er bekümmere sich nicht um unsere Angelegenheiten. Gehe er zurück an seine Arbeit und belästige uns nicht mit diesem Gewinsel“, hatte der Fürst gesagt, als Theodor um das Leben des Mannes gebeten hatte, und, „wenn er nicht auch dort hängen will, lasse er uns nie mehr solche Worte des Verrates hören.“
Theodors Enttäuschung von der Welt war nun grenzenlos. Er beschloss, allem zu entsagen und als Einsiedler im Wald zu leben. Wieder floh er mitten in der Nacht, und lief so weit fort, wie er nur konnte. In einem Wald fand er eine verfallene Hütte und baute sie neu auf. Das erste Jahr war hart, der Winter schien endlos, aber das Wissen aus der vielen Arbeit im Klostergarten machte sich bezahlt. Und als die Frühlingssonne die Vögel wieder singen ließ, war zum ersten Mal seit vielen Jahren ein großer Frieden in Theodors Herz.
Theodor grub das Beet für die Kartoffeln um, und mit einem Mal war ihm, als würde ihn jemand beobachten. Er wandte sich um, und richtig, dort hinten saß ein Luchs und sah ihn an. „Na, du bist aber zutraulich“, meinte Theodor. „Hast du keine Angst vor mir?“
„Warum sollte ich mich fürchten vor einem, der so ein guter Freund Gottes ist“, sagte der Luchs. Eigentlich sagte er es nicht, sondern die Worte waren in Theodors Kopf. Seltsam, dachte Theodor. Wieso kann ich ihn verstehen? „Gott gibt es nicht, also bin ich auch nicht sein Freund“, antwortete Theodor. Der Luchs lachte. „Meine Frau ist im Bau und passt auf unsere Kinder auf. Noch nie war sie so glücklich, erzähl ihr das mal, sie wird dich für völlig verrückt finden.“
Die Jahre der Abstinenz im Kloster, der ewige Kampf gegen den Ruf des Fleisches hatten in Theodor schlimme Spuren hinterlassen, und obwohl er Gott verloren hatte, dieser eine Kummer war ihm geblieben. „Kinder!“ rief er. „Nichts als der böse Fluch des Lasters. Was redest du da, es ist nur die Erbsünde, der du und deine Frau verfallen seid.“
Der Luchs sah Theodor verwundert an. „Wo wärest du denn, ohne dieses Geschenk Gottes? Schau, das Märchen von der Erbsünde, das ist eine List eurer Feinde. Sie waren schwach gegen euch, und von unendlichem Hass erfüllt. So redeten sie euch ein, der Akt der Zeugung sei sündig. Damit ihr euch selbst vernichtet. Es ist eine sehr kluge List, verstehst du? Man bringt den Feind dazu, sich selbst auszurotten. Schlimmer noch, nur die Starken sind dazu überhaupt fähig – die Schwachen können dem Drängen der Natur nicht widerstehen. Und so wird euer Volk durch diese Lüge mit jeder Generation dümmer und schlaffer. Bis man euch, trotz der eigenen Schwäche, ernten kann wie eine reife Frucht.
„Und bevor du über Gott nachdenkst, solltest du zuerst damit aufhören, zu glauben, Er sei wie du. Er ist Der ohne Vater und Mutter, und ist doch Vater und Mutter für jedes Wesen im weiten Himmelsrund. Sogar für noch jeden Stein, aber wer hätte je gehört, dass ein Stein Vater oder Mutter hat? Gott ist ein Gesetz, das solcherart beschaffen ist, dass Es das Sein hervorbringt. Wie kannst du also meinen, die Liebe, der unmittelbare Spiegel der Schöpfungskraft dieses Gesetzes, sei eine Sünde? Nein, nein. Sünde ist das, was diesem Gesetz nicht folgt, und die Freunde Gottes sind die, die Ihn erblicken in jedem Wesen. So wie du.“
In Theodor war eine große Stille geworden. Trotzdem, das Böse, das er erlebt hatte, ließ ihn nicht los. „Aber diese Welt ist so dunkel, wo ist Gott? Warum sieht Er weg?“ Der Luchs dachte lange nach. „Es gibt nur das Licht. Das Dunkel ist nicht wirklich, denn es ist nur die Abwesenheit von Licht. Wohin aber einer geht, ob ins Licht, oder ins Dunkel, das eben ist die Freiheit die der Schöpfer uns gibt. Diese Freiheit ist Seine größte Macht, und Er lässt sie mit diesem Geschenk in uns erstrahlen. Was wir aber damit anfangen, ist alleine uns überlassen. Wenn wir uns ins Dunkel wenden, von Ihm ab, wird er dennoch Seinen Schwur niemals brechen. Und wer weiß, ob gerade dies nicht Sein einziger Wunsch ist: das Dunkel zu erleuchten.
„Ich muss gehen“, sagte der Luchs. „Meine Frau wartet schon auf das Abendessen. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Möge Gottes Segen mit dir sein.“ Theodor sah dem Luchs lange nach, auch als dieser längst wieder im Wald verschwunden war. Und obwohl Theodor alles verloren hatte, was er jemals gelernt und geglaubt hatte, erfüllte ein tiefes Glück seine Seele. Und blieb mit ihm.
Ein langer und warmer Sommer wich dem ersten Frost des Herbstes.
Sie sammelte Pilze, und Theodor fasste sich ein Herz und sprach sie an. Sie hatte keine Freunde, sie mochte den Lärm und die billigen Vergnügen der Welt nicht. Deshalb war sie am liebsten allein im Wald. Theodor lud sie in seine Hütte ein, und bot ihr Kräutertee an. Von da an kam sie oft, und es dauerte nicht lang, da begriff Theodor, dass er sich das erste Mal in seinem Leben verliebt hatte.
Die Alte kam aus der Hütte, und sagte, es sei überstanden. Ob er sein Kind nun sehen wolle? Theodor trat ein, und da war es. „Es ist ein Mädchen“, sagte seine liebe Frau. Sie war nassgeschwitzt, und das Bett war voller Blut. „Wie sollen wir es nennen?“ Theodor sah glücklich auf das Würmchen, und mit einem Mal öffnete es die Augen und blickte ihn an. Und als Theodor in dieses Licht schaute, da endlich erkannte er den Besten Aller Freunde, und dass Dieser schon immer Der Beste Freund gewesen war. „Sophia“, sagte Theodor. „Die Wissende, so soll sie heißen. Weil sie mir Gott gezeigt hat.“
Der Luchs hatte seit Stunden im Wald vor der Hütte gewartet. Nun, da seine Aufgabe erfüllt war, breitete er die Flügel aus und stieg in den Himmel auf, weit hinauf, bis er wieder ein Stern geworden war unter all den anderen Sternen, die die Heimat der Engel sind.