Das Licht der Seele

Sergej hatte schlecht geschlafen. Sein bester Freund war gestern gefallen, ein Partisanen-Hinterhalt. Doch der Kampf musste weitergehen, jetzt erst recht. Und so programmierte er verbissen die Koordinaten. Seine müden Augen täuschten ihn, und ein Zahlendreher schlich sich ein.

Die Rakete flog unbeirrbar auf ihr Ziel, die Zentrale der Geheimpolizei. Der Widerstand in der Schlacht um diese Stadt musste gebrochen werden, und von dort wurde er gesteuert. Aber die Rakete flog vorbei und 80m westlich erst schlug sie ein. Denn das war es, was ihre Programmierung ihr vorgegeben hatte.

Tomas war gerade auf der Toilette, als ein Heulen um ihn war, und dann ein gewaltiger Schlag. Alles war dunkel. Tomas hörte weinende und schreiende Kinder, und Lehrer, die riefen. Er konnte sich nicht bewegen. Eine Eisenstange ging direkt durch sein Bein. Eine rote Lache breitete sich darunter aus. „Hilfe“, flehte Tomas, aber nur ein Flüstern kam heraus. Wie lange er wohl schon so lag? Stunden? Tage? Und er fror so sehr.

Mit einem Mal wurde es warm. Und hell. Eine wunderschöne Frau stand vor Tomas und strich sanft über sein Haar. „Wer bist du?“ fragte Tomas. Die Frau lächelte. „Ich bin ein Begleiter. Ich bringe dich in die Schatten. Oder ins Licht – ganz wie deine Seele es mir befiehlt.“

„Ich bin ein Kind“, sagte Tomas. „Wie soll ich das wissen?“

Der Engel schüttelte den Kopf. „Jetzt bist du wieder alt. So alt wie deine Seele ist – so alt wie das Universum.“

Tomas verstand. Er war gestorben. Gerade gestern erst hatte es der Lehrer ihnen wieder eingeschärft, wie böse die Anderen sind. Und ja, nun hatten diese Bösen die Schule bombardiert, und sein Leben war vorbei. „Wieso hat Gott mich nicht gerettet“, weinte er. „Am Samstag hätte ich spielen sollen, und wir hätten den Pokal holen können…“

Der Engel seufzte. „Ich weiß nicht, warum Ihr tut was Ihr tut. Der Ursprung Des Seins jedenfalls hat nichts damit zu tun. Es ist einfach nur Eure Wahl, verstehst du? Das, was Ihr Gott nennt, das ist nur, was Ihr sein könntet. Genau wie das, was Ihr den Teufel heißt. Gott oder Teufel, es ist beides nur das, wohin Ihr eben geht. Weil Ihr es wollt.

„Siehst du, ein Feuer kann dich wärmen, oder dich verbrennen. Das Feuer jedoch folgt immer nur dem Gesetz Des Einen. Und dieses Gesetz ist beschaffen, wie Es sein muss – um die Schöpfung hervorzubringen. Es kann trennen, Es kann verbinden. Und Es muss beides tun, sonst wäre eben Nichts… wenn aber Ihr dem Trennendem, dem Tod folgt, so werdet Ihr Teufel. Wenn Ihr jedoch dem Verbindendem, der Liebe folgt, dann seid Ihr Götter.

„Nur Weniges im All vermag eine solche Wahl zu treffen, sie wurde Euch geschenkt – was Ihr damit anfangt, ist Euch überlassen.

„Mich macht es auch so traurig, was Ihr auf dieser Welt mit der Freiheit treibt“, seufzte der Engel, und eine Träne lief über seine Wange. „Aber Gott kann überhaupt nichts dafür. Er ist überhaupt nicht Der für den Ihr Ihn haltet – was Ihr in Ihm seht ist vielmehr das, was Ihr sein wollt. Aber nicht könnt. Warum nur habt Ihr Euch dem Trennendem ergeben?“

„Weil es so schön glänzt“, flüsterte Tomas, und er dachte an den Pokal, den er doch so gerne noch gewonnen hätte. Und mit einem Mal verstand er, wo der Fehler war. Es war nie um den Pokal gegangen. Sondern immer um Liebe für die Bewegung, das Streben, das Überwinden – für das Leben.

Ein schweres Gewicht war auf seiner Brust, und es drückte rhythmisch. Die wunderschöne Frau horchte auf. „Oh, die Liebe erringt doch noch einen Sieg für dich. Ich sehe dich dann später.“

Dem Feuerwehrmann rann der Schweiß über die Stirn. „Er atmet wieder! Schnell, die Bahre! Er muss sofort ins Krankenhaus!“

Tomas aber weinte. Zurück in die Hölle, mehr konnte er nicht denken. In die Hölle des menschlichen Hasses.

Aber von da an, und jeden Tag, verströmte er Liebe an jeden und alles auf seinem Weg. Wo ihm aber Hass begegnete, da sah er nur Dummheit. Denn wer Glänzendes schöner findet, als den Weg der Engel, den konnte er nur bedauern.

Tomas befahl seine Seele ins Licht. Denn vom Dunkel hatte er für immer genug.

Addendum: Es ist mir wichtig festzuhalten, dass die Akteure aller Seiten in dieser Erzählung austauschbar sind. Ob es das ukrainische Vorgehen gegen die russische Minderheit im Donbass, oder der Überfall der Russen auf die Ukraine ist – mein Szenario ergreift einzig Partei für die unschuldigen Opfer solcher Gefechte.