Juan erinnerte sich nicht an viel. Da war der fremde Mann, er kam ins Haus und gab seinem Vater Geld. Der Ausdruck im Gesicht des Vaters, als er das Geld zählte. Und dann lächelte er Juan an, aber es war ein Lächeln, das Juan Angst machte.
Monoton klangen die Räder des Zuges, wie er über die Schwellen der Gleise in einer weiten Steppe ratterte. Im Container war es kalt und zugig. Juan weinte, wie er fast die ganze Zeit geweint hatte, nachdem die harte Hand des fremden Mannes ihn zum Auto gezerrt hatte. Neben ihm lag ein kleines Mädchen, er wusste ihren Namen nicht und er verstand ihre Sprache nicht. Vor ein paar Stunden noch hatten sie mit Zeichensprache versucht, sich zu verständigen, aber jetzt lag das Mädchen in unruhigem Schlaf. Fieberglänzender Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sie war sehr krank, das hatte Juan an ihrem schrecklichen Husten gehört.
„Sei froh, dass du noch lebst“, hatte ihn der Aufseher angeherrscht, als er um ein Glas Wasser für das Mädchen gebeten hatte. „Du bist Abfall und willst noch Ansprüche stellen?“ Und dann hatte er Juan brutal geschlagen, und Juan traute sich nicht mehr, um irgendetwas zu bitten. Seine Hose war nass, denn auf den Eimer, der in der Mitte des Containers stand, wollte er um keinen Preis der Welt.
Der kleine Engel saß ratlos auf dem Dach des Containers. Seine Flügel hingen traurig herunter. „Du hast dich immer gut geschlagen“, hatte sein Einsatzleiter ihn vor einiger Zeit gelobt. „Aber nun wird es Zeit, dass du dich um echte Probleme kümmerst. Er heißt Juan und ich befürchte, er wird bald einen Schutzengel sehr nötig haben.“ Doch dass das so ein furchtbares Dunkel sein würde, dem sich der kleine Engel würde stellen müssen, davon hatte Elias nichts gesagt. Ich bin gerade erst seit 15.000 Jahren in diesem Job, dachte der kleine Engel. Wie kann er mir eine so entsetzliche Aufgabe zumuten? Einen Vogel singen zu lassen, damit ein Kleiner gerade noch rechtzeitig aufsieht, bevor er mit seinem Fahrrad bei Rot über die Ampel in einen Lastwagen kracht, ja, das konnte der kleine Engel perfekt, und so hatte er schon viele Kinder groß gebracht. Aber das hier? Ich wusste nicht, dass Menschen so böse sein können, grübelte der kleine Engel, was sollte ein singender Vogel dagegen ausrichten können?
Der Zug hielt, und Juan merkte schnell, dass das ein anderer Halt war als die vielen Stopps zuvor. Er hörte, wie die Container geöffnet wurden. Und bald schwang auch die Tür seines Containers auf. Es war tiefe Nacht, wenige Laternen erhellten einen Bahnsteig mitten in der Wüste. Der Aufseher schlug mit der Peitsche nach Juan, und zeigte ihm, in welchen der bereitstehenden Transporter er gehen müsse. Juan drehte sich noch einmal nach dem Mädchen um, er wollte ihm Lebewohl winken, aber das Mädchen war ganz weiß im Gesicht und steif, und als er ihre Hand nahm, war sie kalt. „Christus, bitte sei ihrer Seele gnädig“, flüsterte Juan, so wie er es in den Bibelstunden gelernt hatte. Und dann beeilte er sich, dem Befehl des Aufsehers zu folgen.
Eine sehr dicke Frau nahm ihn in Empfang und wies auf einen Platz auf einer Pritsche im Lastwagen. Viele weitere Menschen strömten hinein, Frauen, Männer, Alte, Junge. Dann schloss sich die Ladeklappe und der Transporter fuhr an.
Es mussten viele Stunden vergangen sein, denn Juan war in einen tiefen Schlaf gefallen. Als der Lastwagen endlich hielt, erwachte Juan. Er hustete schlimm, und bekam es mit der Angst zu tun. Er kannte diesen Husten, er hatte ihn an dem Mädchen gehört.
Ein Mann in einem weißen Kittel stieg ein. Er zeigte auf einige der Immigranten, auch auf Juan. Mit den anderen wurde Juan in eine Station gebracht, es wirkte wie ein Krankenhaus. Einer nach dem anderen wurde in ein Zimmer gerufen, und als Juan dran war, sah er, warum. Der Arzt und eine Helferin nahmen ihm Blut ab, tätowierten ihn mit einem Strichcode auf den Unterarm und beschrifteten die Phiole mit Juans Blut sorgfältig.
Danach hieß es wieder warten, aber immerhin bekam Juan nun frische Wäsche und einen Teller heiße Suppe mit Brot. Juan schlang das Essen herunter, es musste zwei Tage her sein, dass er das letzte Mal etwas in den Magen bekommen hatte, außer zweimal brackigem Wasser im Container. Die Stunden vergingen.
Der kleine Engel war nun völlig verzweifelt. Er wusste, was der Arzt dort tat, und wie das Schicksal war, vor dem ihm sein Einsatzleiter aufgegeben hatte, Juan zu retten. Denn er hatte sich die Gestalt einer Mücke gegeben, war in das Arztzimmer geflogen und hatte dort gesehen, dass ein Treffer in der Datenbank zu Juans Blut kompatibel war. „Na, für diese Leber werden wir richtig absahnen können“, hatte der Arzt gemeint. „Der, zu dem der Junge passt, das ist ein ganz reicher Sack, diesem versoffenen Dreckskerl nehmen wir eine fette Extraprämie ab. Aber was machen wir mit dem Rest des Jungen? Die Leber-Entnahme wird er nicht überleben, also müssen wir auch alles andere verwerten. Wäre doch schade drum, ich hör mich mal um, wer sonst noch etwas von ihm brauchen könnte. Mindestens für die Augen und die Hoden geht bestimmt noch was.“ Und der Arzt hatte an das Strip-Lokal gedacht, in das er gehen würde, um seinen Glückstreffer zu feiern, und an das dicke Dekolleté von Anna-Maria, in das er bald viele Dollar stecken würde.
Der kleine Engel hatte genug. Er würde Elias zur Rede stellen. Erstens, was sollte ein kleiner Engel gegen ein so furchtbar Böses ausrichten? Zweitens, eine Spezies, die in ihrer Mitte so gleichgültig ein so unsagbares Elend duldete, sogar gegen die eigenen Kinder, die verdiente keine Schutzengel. Sollen sie sich doch abschlachten, wie sie wollen, dachte der kleine Engel, wenn das ihr freier Wille ist, warum sollte ausgerechnet ich sie davor bewahren? Der kleine Engel stieg auf und flog zur Burg des Einsatzleiters in den Wolken.
Doch Elias winkte ab. „Es sind Millionen Kinder jedes Jahr, und wie es Juan ergeht, das ist noch lange nicht das schlimmste Schicksal, wie es vielen dieser Kinder widerfährt. Da man ihn bei guter Gesundheit braucht, wird man ihn zumindest ab jetzt einigermaßen anständig behandeln. Aber die Organentnahme – du weißt, dass der Spender bei der Operation leben muss? Sie werden Juan bei lebendigem Leibe ausweiden, es ist einer der schrecklichsten Tode, den man sterben kann. Bitte tue alles, was dir einfällt, um Juan dieses Los zu ersparen.“
Der kleine Engel war sehr nachdenklich geworden. „Warum machen wir das? Wenn es noch Millionen andere Kinder wie Juan gibt, was wollen wir dann überhaupt noch hier? Diese Welt ist so dunkel, ich glaube, der Abyss wird sie verschlingen. Wäre unsere Hilfe nicht anderswo viel besser angebracht?“
Elias zuckte mit den Schultern. „Der Chef hat es angeordnet, und es steht mir nicht zu, Seine Befehle zu bezweifeln. Außerdem, hast du einmal darüber nachgedacht, je größer das Dunkel, umso heller das Licht, das es versteckt? Ich habe keine Ahnung, aber ich glaube, der Chef hat mit den Menschen noch etwas vor. Und wer wäre ich, das zu hinterfragen? Du und ich, wir sind nur Diener.“
Der kleine Engel sah Elias nachdenklich an. „Wie schaffst du das? Wie bekommst du es hin, immer wieder für die Menschen zu kämpfen? Sie sind so böse und grausam, warum sollte man sich für sie verwenden?“ Ein Zug von tiefer Trauer trat in Elias‘ Miene. „Ich weiß, was du meinst, lieber Freund. Es ist ein Böses in dieser Welt, das ist so schrecklich wie es selten ist in den Weiten des Alls. Aber ich sehe nur die Kinder, die sind, und die Kinder, die einmal waren. Denn auch der Böseste der Bösen war einmal ein giggelndes Baby, und nur das sehe ich, auch wenn ich diesem Bösesten gegenübertreten muss. Verstehst du, so wie die Kinder der Menschen sind, so hatte der Vater es sich gedacht, doch warum sie sich so sehr verirrt haben, das müssen die Menschen schon selbst herausfinden.“
Elias stand auf. „Aber ich habe eine Theorie. Es ist Faulheit. Die Menschen waren zu faul, zu denken, und erst recht zu faul, sich zu wehren gegen das Böse. Meistens ist es so, wenn eine Spezies sich im Dunkel verliert, und ich glaube, auch bei den Menschen wird es nicht anders sein. Wie auch immer, es ist Zeit, du musst dich sputen. Vielleicht kannst du Juan retten, vielleicht auch nicht. Doch versuchen musst du es.“
Der kleine Engel war getröstet. Elias schaffte es immer wieder, ihm das Licht Gottes zu zeigen. Und wie der kleine Engel in höchster Eile durch die Wolken stob, kam ihm eine Idee.
Juan hustete immer schlimmer. Der Arzt sah ihn sich an und verordnete Antibiotika und Hustenstiller. Der muss fit bleiben bis zur OP, dachte der Arzt, danach ist es sowieso egal. Die Arzthelferin ging zu ihrem Auto, um die Medikamente zu besorgen. Als sie die Tür öffnen wollte, kroch eine Schlange unter dem Auto hervor und zischte sie böse an. Der kleine Engel hatte die Schlange ordentlich in den Schwanz gezwickt, aber das konnte die Arzthelferin nicht wissen. Sie stolperte rückwärts und schlug der Länge nach hin.
Der Arzt wusste gleich, dass er nun eine andere Helferin brauchte. Diese da würde mit einer Gehirnerschütterung mindestens einige Tage ausfallen. Er rief im Krankenhaus an und bat um Ersatz. Der kleine Engel raste hin und her und gab sein Bestes. Deborah, die musste es sein. Deborah liebte Kinder, vielleicht würde der kleine Engel ihr Herz erweichen können. Und es funktionierte, eine Nachtigall störte den Portier, eine Spinne erschrak die Sekretärin, und ein Eichelhäher schrie so laut, dass der diensthabende Arzt durcheinander kam. Bis ihm einfiel, dass Deborah die letzte war, die er hätte schicken dürfen, war es zu spät, sie war schon auf dem Weg.
Deborah strich sanft über die Stirn des Jungen. „Du hast eine starke Lungenentzündung, mein Kleiner. Ich werde mit dem Arzt sprechen, er muss dich ins Krankenhaus verlegen.“ Doch der Arzt weigerte sich. „Er wird bald operiert, Sie müssen nur dafür sorgen, dass er bis dahin durchhält. Sie werden hervorragend bezahlt, und sollten sich ansonsten besser keine Gedanken machen, die ganz bestimmt nicht Ihre Angelegenheiten sind.“
Deborah hatte von solchen versteckten Hinterhofkliniken schon gelesen, aber das niemals glauben können. Es kann Solche nicht geben, die so böse sind und so etwas sogar Kindern antun, hatte sie sich selbst immer wieder beruhigt. Aber hier war sie, und die mit Eis gefüllten Organtransport-Koffer waren unmissverständlich. Sie rief den Sheriff an.
Der Sheriff hatte nicht helfen wollen, die Bande schmierte ihn schon lange, und er wusste, sie würde ihn töten, wenn er sich in den Weg stellte. Aber der kleine Engel hatte all sein Licht in Deborahs Herz verströmt, und sie hatte wieder Mut gefasst. Und so kam es, dass am Ende einer langen Reise, und nach vielen Abenteuern, Juan in Deborah eine neue Mama gefunden hatte in einem kleinen Dorf am anderen Ende des Landes. Er ist ein Kind des Himmels, pflegte Deborah zu sagen, wer wäre ich, mich diesem Dienst zu verweigern?
Der kleine Engel hatte die nächsten Jahre also nicht allzuviel zu tun, und als Juan groß geworden war, meldete er sich wieder für eine neue Aufgabe bei Elias. „Für die Kinder, die sind, und die Kinder, die einmal waren“, sagte der kleine Engel tapfer.