Das dritte Gericht

Der Soldat robbte vorsichtig durch das Unterholz. Er war auf einer Aufklärungs- und Erkundungsmission. Er erreichte einen Schuppen am Rand des Waldes, aus dem Schuppen drang schreckliches Kinderweinen. Vorsichtig spähte der Soldat durch einen Spalt in der Lattenwand der Hütte.

“Na, was sollen wir ihm denn als nächstes abschneiden, du verräterischer Hund? Hier, siehst du, das sind seine Daumen, womit sollen wir weitermachen?” Der feindliche Kämpfer lachte höhnisch. Vor ihm, gefesselt an einen Stuhl, saß ein Mann, der der Vater des Jungen sein musste, denn er war dem Wahnsinn nahe und sein Gesicht war tränenüberströmt. Das Kind kauerte inzwischen, nur noch erstickt schluchzend, am Boden, und das Blut aus seinen Daumen strömte in stetigem Strahl. Er wird sterben, begriff der Soldat. Wenn ihm nicht jemand sehr bald die Stümpfe seiner Daumen abbindet, dann wird der Knabe verbluten.

Aber der Soldat hatte strikten Befehl, er musste um jeden Preis unentdeckt bleiben. Wenn er Spuren hinterlassen würde, und diese auch noch ohne Befehl und Auftrag verursacht wären, dann würde er in den Bau gehen. Doch es waren nur zwei Männer, und das Moment der Überraschung war bei ihm. Der Soldat war sicher, er würde die beiden mühelos ausschalten können. Und obwohl er keine Ahnung hatte, was vor sich ging – was die Männer taten, was sie weiter tun würden, und dass das Kind in Not war, das begriff er sofort. Die blutigen Daumen, die der Folterer dem Vater vor die Augen hielt, waren eine klare Sprache. Der Soldat musste dem Jungen helfen. Etwas jedoch störte ihn … Aber dann warf sich der Junge, er mochte wohl zwölf Jahre alt sein, zu Füßen des Folterknechts und schrie etwas in dieser fremden, kehligen Sprache, das nur ein Flehen für das Leben seines Vaters sein konnte. Das brach des Soldaten Herz, er entsicherte seine schallgedämpfte Waffe und trat die Tür auf. Der Winkel war günstig, er musste nur draufhalten, und der Junge lag ja glücklicherweise am Boden. Beide Männer durch die Brust, und dann noch zwei Kopfschüsse. Draußen kreischten die Vögel, und das Kind zitterte. Der Soldat bedeutete dem gefesselten Vater mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger, leise zu sein, und zeigte dann auf den Sohn. “Ich muss mich zuerst um ihn kümmern”, flüsterte er, obwohl er wusste, dass der andere ihn nicht verstehen konnte. Er öffnete seinen Tornister und entnahm ihm zwei Kompressen.

Eine Ameise saß auf der rechten Hand des Kindes. Der Soldat scheuchte sie fort und band den Daumen der Hand ab. Er war gerade mit dieser ersten Kompresse fertig geworden, da traf ihn ein furchtbarer Schlag und er kippte nach vorne. Im Fallen sah er, was ihn vorhin gestört hatte, und wovon der Junge mit seinem verzweifelten Versuch, den Vater zu retten, ihn abgelenkt hatte. Es war ein dritter Helm auf einem Stuhl in der Ecke.

Es war dem Soldaten, als müsse er Wasser husten, aber es war Blut, das in einer Lache vor seinem Gesicht zu einer Pfütze wurde. Ein weiterer, diesmal leiser und trockener Knall ertönte. Zuerst dachte der Soldat, nun hat der dritte Kämpfer den Jungen erschossen, der Vater ist ohnehin gefesselt, der Dritte kann nur den Jungen erschossen haben, aber dann begriff er plötzlich, dass das der Klang seiner eigenen Waffe gewesen war. Der Knabe hatte blitzschnell reagiert, sich die Waffe des Soldaten gegriffen, sie musste dem Soldaten aus dem Futteral gefallen sein, und damit den dritten Mann erschossen.

Die Ameise trippelte zu der Lache aus Blut, die vor dem Mund des Soldaten war. Der Knabe lag ungefähr einen Meter entfernt und sah den Soldaten an. Er war bereits sehr geschwächt vom Blutverlust und atmete flach. Der Soldat konnte dem Jungen nicht mehr helfen, er vermochte es kaum noch, auch nur den Arm zu heben. Der Soldat sah die Ameise an. “Das ist es, was wir sind. Wir sind nur Ameisen für Gott, Er zertritt uns, ohne uns auch nur zu beachten”, durchfuhr es den Soldaten bitter.

Die Ameise blieb stehen. “Ja ja, das haben wir gern, sich aufführen wie die allerletzten durchgeknallten Volltrottel, und dann aber den Großen Freund verantwortlich machen wollen.” Der Soldat hörte die Stimme der Ameise ganz deutlich in seinem Kopf. Natürlich war das völlig unmöglich, aber es war einfach so. Die Ameise sprach weiter. “Da liegst du also in deinem Selbstmitleid im erbärmlichen Versuch, die Schuld für deine Taten jemand anderem in die Schuhe zu schieben, und wenn dir dafür nichts einfällt, dann soll mal wieder der Herrgott als Sündenbock herhalten.”

Der Soldat überlegte. Die Ameise sah zwar in seine Richtung und gestikulierte mit ihren Fühlern, aber sie redete doch gar nicht. Und trotzdem hörte er sie. Bedeutete das, dass er seine Antwort vielleicht einfach denken könnte? Denn Sprechen konnte der Soldat längst nicht mehr. “Na klar”, sagte die Ameise. “Du hast dein ganzes Leben nur nach Außen geblickt, und alles, was du dein ganzes Leben lang getan hast, war Dinge zu sammeln, mit denen du eine Mauer um deine Seele gebaut hast. Klar hast du keine Ahnung von der Sprache der Seele, wundert mich gar nicht. Jedenfalls, wenn du mit mir reden willst, ich bin ganz Ohr.” Der Soldat folgte der Aufforderung gern, dieser frechen Ameise würde er jetzt die Meinung geigen. “Das ist gemein, wenn du sagst, ich wäre ein durchgeknallter Volltrottel. Ich habe gerade versucht, dem Jungen das Leben zu retten, aber nun wird auch der Junge sterben. Weil der dem Herrgott genauso egal ist wie ich, ich bleibe dabei.”

Die Ameise kreuzte ihre Fühler. Das schien ein Kopfschütteln nach Art der Ameisen zu sein. “Gut, ich werde es dir erklären. Aber könnten wir uns bitte zunächst um etwas viel Wichtigeres kümmern? Der Vater ist noch immer gefesselt, jemand muss ihn befreien, und vielleicht würde das sogar den Jungen retten. Also, was machen wir?”

Der Junge sah noch immer zu dem Soldaten herüber. Die Kraftanstrengung seiner schnellen Reaktion hatte ihn sichtlich überfordert. Trotzdem, dem Soldaten musste es irgendwie gelingen, dass der Junge sich das Messer des Soldaten nahm und den Vater losschnitt. “Hey”, rief der Soldat, und das führte zu einem neuen Schwall von Blut aus seinem Mund. Aber der Junge war aufmerksam geworden. Der Soldat hob seine rechte Hand mühsam ein paar Zentimeter und zeigte auf seinen Gürtel, ungefähr in die Richtung, wo sein Messer war. Dann sah er zu dem gefesselten Vater, und mehrmals zwischen dem Jungen und dem Vater hin und her, und der Junge verstand. Er kroch auf dem Bauch zu dem Soldaten und fand das Messer. Dann wandte er sich zu seinem Vater.

Die Fußfesseln waren leicht gewesen, aber nun hieß es aufstehen, um hinter der Lehne des Stuhles die Hände des Vaters loszuschneiden. Ich werde es nicht können, dachte der Junge. Das geht einfach nicht. Er sah zu dem Soldaten hinüber, und schüttelte den Kopf, um dem Soldaten zu bedeuten, dass es unmöglich war. Aber der Soldat bemerkte es nicht, er sah nur vor sich, denn vor ihm saß diese seltsame Ameise, die auch dem Jungen schon aufgefallen war.

Der Soldat hatte sich zwar mittlerweile daran gewöhnt, dass vor ihm eine Ameise saß und sich mit ihm unterhielt, aber nun wollte er es wissen. “Wer bist du”, fragte er die Ameise. “Ich bin ein Bote”, sagte die Ameise. “Deine Seele hat mich herbeibefohlen, denn es ist Zeit für dich, wieder in die Ewigkeit einzugehen. Und nun, so bin ich also hier, und bringe dir das Urteil des Obersten Richters.”

Der Knabe begriff, dass der Soldat entweder schon tot war, oder so nahe dran, dass er dem Knaben nicht mehr helfen konnte. Erst gibt er mir das Messer, und dann soll es ihm egal sein, ob ich meinen Vater losschneiden kann? Nein, er ist tot, und obwohl er ein Feind ist, ist er gestorben für mich und meinen Vater, dachte der Junge. Dem Knaben wurde es mit einem Mal warm ums Herz. Ach, was soll es, entschied er. Die Wochenenden im Fußballstadion mit Papa waren doch ein so schönes Geschenk von Gott gewesen, wenn es nicht mehr geben würde vom Leben für ihn, dann wäre es doch ohnehin schon längst genug der Gnade gewesen. Der Junge griff nach dem Stuhl, um sich mit einer Hand hochzuziehen. Als er endlich hinter den gefesselten Händen seines Vaters stand, wurde ihm schwarz vor Augen, und er schwankte gefährlich. Aber er schaffte es gerade so, sein Gleichgewicht zu bewahren, und sein Augenlicht kehrte zurück.

Doch als der Knabe seinen Vater endlich befreit hatte, stürzte er zu Boden, sein Gesicht wurde weiß und der Glanz wich aus seinen Augen. Die schier übermenschliche Anstrengung, sich am Stuhl aufzurichten, hatte des Kindes Herz anhalten lassen – und als die Freude über seine geglückte Heldentat kommen wollte, da war die Kraft des Jungen zu Ende gewesen.

Nun saß eine zweite Ameise vor dem Soldaten. Was macht eigentlich der Junge, dachte der Soldat. Er drehte mühsam den Kopf, sah in leere Augen und wusste Bescheid. Er wandte den Kopf wieder den beiden Ameisen zu. “Tja”, sagte die seltsame Ameise, die ein Bote war. “Das ist wirklich eine furchtbare Tragödie hier. Gleich wird der Vater merken, dass sein Sohn das Leben für ihn gegeben hat, und dann wird es sogar noch schlimmer. Ich hoffe, der Vater wird eines Tages verstehen, dass sein Sohn nur tat, was er für den Sohn genauso getan hätte, und dass es deshalb gerecht gewesen ist, dass der Kleine so früh gehen musste. Aber ich befürchte, der Vater wird nun nicht sein Leben der Dankbarkeit für das Opfer seines Sohnes widmen, wie es richtig wäre, zum Beispiel, in dem er sich um Kriegswaisen kümmert. Er wird zu den Waffen greifen und noch mehr Gewalt säen wollen. Er ist ein Verräter, weißt du? Ein Doppelagent, wie man so sagt. Die drei Kämpfer wollten seinen Kontakt in deine Armee aus ihm herausfoltern.”

Der Soldat spuckte schon wieder Blut. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr, dachte er, und ich muss es unbedingt vorher noch wissen. “Sag mal, kleiner Ameisenfreund, ich will es wirklich verstehen, wenn Gott die Menschen nicht egal sind, warum beendet Er dann den Krieg nicht? Und danke übrigens, dass du mich vorhin aus meinem Selbstmitleid geworfen hast, es tut mir zwar sehr leid für den Jungen, aber das konnte man doch nicht wissen. Es war richtig, es zu versuchen, denn hätte er es nicht versucht, wäre er auch gestorben, also …” Die Ameise breitete ihre Fühler aus. War das ein Lächeln? “Danke für deine freundlichen Worte. Wobei ich gestehen muss, dass meine Wut durchaus ehrlich war. Da liegen also deine Feinde in ihrem Blut, und du verstehst es noch immer nicht. Was glaubst du denn, was der Vater des Jungen in dir sieht? Auch einen Feind! Aber wie kann das sein, ihr könnt doch noch nicht einmal miteinander reden?”

“Es stand in der Zeitung”, antwortete der Soldat. “Die Bösen müssen besiegt werden zum Ruhme von Staat, Volk und Gott. Sie haben es alles ganz genau erklärt, auch im Radio und im Fernsehen. Und ich musste doch tun, was man mir befahl.” Die Ameise lachte. “Naja, und in deren Zeitungen stand spiegelverkehrt genau dasselbe drin. Sag mal, wie naiv bist du eigentlich? Der Krieg ist ein Geschäft von Leuten, die sich kennen, und für das sich Leute gegenseitig umbringen, die sich nicht kennen. Man trägt nur dein Fleisch zu Markte, so wie das Fleisch der drei Kämpfer und des Jungen. Irgendwo klingelt gerade die Kasse eines Kriegsherren, weil niemand der Anderen Nein sagt.

“Pass auf”, sagte die Ameise. “Ich habe versprochen, es dir zu erklären, und, tut mir leid Kumpel, es ist eigentlich Baby-einfach. Das Leben ist ein Vertrag, den du mit dem Herrgott eingehst, und dieser Vertrag besagt, dass dir für die Zeitspanne zwischen deiner Geburt und deinem Tod die ganze Freiheit der Schöpfung geschenkt ist. Und das war es auch schon. Weißt du, der Herrgott ist selbstverständlich der fairste und korrekteste Vertragspartner, den man haben kann, und wenn Er dir sagt, dass du Freiheit hast bis zu deinem Tod, dann hält Er sich daran eisern, und wenn du den ganzen Planeten in die Luft sprengen wolltest. Allerdings zeigt Er es dir dauernd, in subtiler, aber auch brachialer Weise, dass deine Freiheit nur begrenzt ist und die letzte Macht immer bei Ihm liegt und liegen wird. Ob es mit der Tatsache ist, dass du zur Toilette musst, oder mit dem toten Vogel vor deinem Fenster, weil du zu faul warst, warnende Aufkleber für die gefiederten Freunde anzubringen. Ich weiß nicht, ob Gott etwas tun wird, euren schrecklichen, sinnlosen und so furchtbar gefährlichen Krieg zu beenden. Sicher vermöchte Er es, aber wird Er es auch tun? Es könnte vielleicht davon abhängen, wie der gemeinsame Funke in der Seele eurer Art, die Menschheitsseele, um es einfacher zu sagen – wie dieser Funke in eurer Seele sich neigt. Aber ich weiß es nicht, und niemand weiß es, denn niemand kennt die Wege des Großen Freundes. Sicher jedoch ist, das erste Weltengericht habt nur ihr Menschen und völlig alleine verbrochen, und das zweite ganz genauso. Trotzdem wolltet ihr, um jeden Preis, eure Freiheit auch noch vor das dritte Gericht stellen. Vielleicht sagst du nun schon wieder, aber du wärest doch nur einfacher Soldat gewesen, und die Generäle und Politiker, die hätten doch – ts ts, da waren wir vorhin schon, es ist egal, wie groß oder klein dein Beitrag zur Verhinderung dieses Krieges gewesen wäre, es wäre ein Beitrag gewesen. Doch von dir kam kein Beitrag für den Frieden, du warst feige … Aber der Große Freund ist gütig, ich bin sicher, Er wird es dir nicht übel nehmen. Denn immerhin hast du in deiner letzten Stunde bewiesen, dass du weißt, welches die ewigen Werte sind. Und es ist eben leider auch wahr, da hast du recht, dass man nicht nur dich, sondern alle Menschen so außerordentlich heimtückisch und koordiniert belogen hat seit langem schon.”

Im Herzen des Soldaten war eine goldene Sonne aufgegangen. Er hatte den Großen Freund wiedergefunden, und seine Seele erstrahlte. Der Soldat war nach Hause gekommen.

Drei Ameisen bildeten eine Kette und zogen einen für sie riesigen Brotkrumen, der aus dem Tornister des Soldaten gefallen war, in ihr Nest am Waldrand.