Nachdenklich drehte der alte Mann die Medaille in den Fingern. „Für besondere Tapferkeit“, wie oft hatte er diese Worte schon gelesen. Und so sehr hatte er es sich gewünscht sein Leben lang, sein Vater wäre nicht tapfer, sondern bei ihm gewesen.
Fritz sah es, rings um ihn her. Dieses Lager war der Tod. Wie sehr er sich sehnte, seinen kleinen Jungen noch einmal in den Arm nehmen zu können. Aber es würde nicht sein. Er würde sterben, in den Steinbrüchen, in der Kälte, und seinen Sohn zurücklassen müssen.
Der alte Mann wusste, dass seine Zeit gekommen war. Der Herrgott forderte den Seelenfunken zurück. War es ein gutes Leben gewesen? Nun, er hatte seine Kinder nicht im Stich gelassen, so wie sein Vater ihn, war immer für sie da gewesen, so gut er es nur vermocht hatte. Und da war jetzt auch diese kleine Schar von Enkeln. Er würde gehen können, in Frieden mit sich und der Welt.
Fritz schlüpfte aus der Baracke. Heute nacht würde er fliehen, und wenn er erschossen würde, dann wäre es ihm auch einerlei. Heim zu Weib und Kind, das war alles, um was er flehte. Und müsste er auch 9000 Kilometer laufen dafür. „Wenn die Wahl zwischen sicherem Tod im Lager, und möglichem Tod auf der Flucht ist, dann ist es doch eine leichte Wahl“, so dachte er es sich, immer noch naiv, und noch immer im Unverständnis der bösen Mächte.
Ein Furor hatte die Welt ergriffen, als Fritz gerade mal 18 gewesen war. Die Völker begannen einander zu hassen in aller Inbrunst. Es war wieder das alte, uralte falsche Spiel der Wenigen, und die Menschen waren wieder einmal, wie schon so oft, darauf hereingefallen. Fritz jedoch war dagegen gefeit gewesen, denn all sein Sinnen drehte sich nur um Marie. Wenn sie ihn ansah, mit diesem verschmitzten Lächeln, dann war das Paradies schon da. Doch er musste fort, der Heimat dienen, wie es hieß.
Die gütigen Tage, als ein Schrapnell ihn am Oberschenkel verletzt hatte. Die Heirat, noch bandagiert und humpelnd, aber wie glücklich alle waren, und so ein schönes Fest. Die Front war weit weg.
Der Heimaturlaub, zur Belohnung, weil er fünf verletzte Kameraden einer anderen Kompanie unter feindlichem Feuer so lange verbissen verteidigt hatte, bis die Hilfe kam. Alle bis auf einen hatten überlebt, und einen Orden hatte er auch bekommen. „Für besondere Tapferkeit“, stand darauf, aber das war ihm egal. Er schenkte ihn Marie, denn nichts auf der Welt kam dem gleich, wie es gewesen war, das kleine Würmchen in den Armen zu wiegen. Er wollte ihn wiedersehen, so sehr, für ihn da sein, ihn hüten und umsorgen.
Er schlich leise aus der Baracke. Das Lager war dunkel und still, nur das Stöhnen der sterbenden Männer in ihrem qualvollen Schlaf war zu hören. Vor drei Tagen schon hatte er das Werkzeug deponiert in der Nähe des Zauns, leise schnitt er sich durch den Drahtverhau. Endlich fiel das letzte Stück. Fritz kroch durch den Schnee, noch immer keine Rufe, kein Licht. Er musste es nur bis zum Wäldchen schaffen, dann… die Sirenen gingen an. Suchscheinwerfer schnitten gierig durch die Nacht. Es gab keine Wahl mehr. Er sprang auf, und rannte los.
Eine schwere Faust traf ihn in den Rücken. Fritz schlug lang vorneüber, die Arme ausgebreitet im Schnee.
Der alte Mann seufzte kurz, dann schloss er die Augen und gab seine Seele in die Hände des Herrn. Der Engel kam. Sanft nahm er den alten Mann in den Arm. „Nun“, sagte der Engel, „wieder daheim.“ Der alte Mann sah den Engel an. Er war wunderschön. „Werde ich meinen Papa wiedersehen?“
„Es ist nicht so, wie du denkst“, flüsterte der Engel. Behutsam breitete er die Schwingen aus und flog mit dem alten Mann in eine ferne Zeit.
Fritz spürte, wie das Leben von ihm wich. Sein heißes Blut schmolz den Schnee. Der Engel kam. „Aber warum?“ weinte Fritz. „Ich wollte so gern Marie wiedersehen, und mein feines Kind.“ Ernst sah der Engel ihn an. „Wie schwer ist ein Wassertropfen? Wieviel wiegt eine Schneeflocke?“ Fritz war verwirrt, was sollten diese Fragen im Angesicht des Todes. Aber er antwortete dem Engel dennoch: „Sehr, sehr leicht sind beide, sie wiegen kaum mehr als Nichts.“
„Und doch“, sagte der Engel, „ist es der eine letzte Tropfen, der den prallen Damm zum Bersten bringt. Und es ist die eine letzte Flocke, die den schneebepackten Ast brechen lässt.
„Du hast deine Pflicht getan. Du warst tapfer im Angesicht des Bösen, und hast gekämpft um das Leben deiner Frau und deines Kindes. Denn mögen sie dir auch fern gewesen sein all die Jahre, deine Mühe galt doch immer nur ihnen. Wie willst du es wissen, ob du nicht gerade der eine Tropfen bist, der deine Frau beschützt, und die eine Flocke, die das Leben deines Sohnes bewahrt?“
Marie hetzte durch die Nacht. Der Rucksack mit ihrer nötigsten Habe wog schwer, und auf dem Arm trug sie das Kind. Der Junge hustete so schlimm in den letzten Tagen, der Gewaltmarsch in das Wäldchen mit den rettenden Kutschen war zu viel für ihn.
„Frau komm her!“ Marie erstarrte. Sie wusste, was nun kam. Verschleppt in einen Bunker, 10, 15 Männer, solange, bis sie tot sein würde, und dann noch weiter. Oh Gott, dachte sie, mein Kind, er ist doch so krank.
Wilhelm hörte den kehligen Ruf, sah die junge Frau mit dem Kind. Auch er wusste, was das zu bedeuten hatte. Vor acht Tagen erst war er aus dem Lazarett entlassen worden. Zwei Jahre war er dort gewesen, nachdem ein besonders tapferer Fremder ihn bewusstlos und sterbend doch noch gerettet hatte vom Schlachtfeld.
So viel Furchtbares hatte Wilhelm seit seiner Entlassung schon mit ansehen müssen, das Schicksal der Frau war offensichtlich. „Ach, wäre ich doch gestorben im Niemandsland wie der Fünfte von uns, dann müsste ich all dies hier nicht ertragen…“ Er zog sein Messer, und schrie den Soldaten an: „Lass sie sofort gehen!“
Der Soldat drehte sich um. Ein böses Lächeln umspielte seine Lippen. Der da war ihm auch recht.
Marie nutzte die Gunst der Verwirrung und rannte los, so schnell ihre Beine sie tragen konnten.
Wilhelm hatte keine Chance. Das Bajonett des Soldaten durchbohrte ihn. Aus den Augenwinkeln sah er die fliehende Frau. „Sie wird es schaffen“, dachte er, und an diesen Trost klammerte er sich.
Der Engel kam.